Realer Protest, digital verbreitet

Von Jürgen König |
Auf der Konferenz "Rückeroberung des Öffentlichen" an der Akademie der Künste diskutierten Fachleute, wie sich die Jugend- und Bürgerrevolten der vergangenen Jahre auf den öffentlichen Raum auswirken. Vor allem die Rolle sozialer Medien spielte dabei eine Rolle.
Das Internet beschleunigt gesellschaftliche Prozesse, mobilisiert Einzelne, organisiert Gruppen, setzt dabei unter Umständen enorme, auch revolutionäre Bewegungen in Gang, wobei Kunst und Kultur oft eine erhebliche Rolle spielen. Doch tun all diese Bewegungen und Prozesse sich sehr schwer damit, auch neue politische Organisationsformen hervorzubringen: Bürgervertretungen, Gremien, Parlamente, Regierungen, die auch die Ziele der Protestbewegungen vertreten. Darin waren sich die Teilnehmer der Konferenz des Goethe-Instituts über die "Rückeroberung" des Öffentlichen Raumes durch Netz- und Kunst- und Kulturaktivisten am Ende - nach kontroverser Debatte - doch einig.

Die libanesisch-ägyptische Kunsthistorikerin und Künstlerin Bahia Shehab etwa, deren Graffitis in ganz Kairo unübersehbar sind, beschrieb sehr nüchtern, ihre Generation werde die Früchte der "Arabischen Revolution" nicht ernten - aber vielleicht ihre Kinder:

"Wie wollen Sie eine Nation aufbauen, die jahrzehntelang in jeder Beziehung sabotiert wurde? Wo jeder käuflich ist - für eine Flasche Öl oder einen Sack Reis? Die Muslimbruderschaft gibt es seit 80 Jahren und sie sind sehr gut organisiert. Uns gibt es erst seit zwei Jahren und leider ist im Moment niemand groß genug und ist niemand organisiert genug, eine Führungsrolle in einem Land von der Größe und der Bedeutung Ägyptens einzunehmen. Wir suchen so jemanden, und wir werden so jemanden auch finden, ich habe da gar keine Zweifel. Wir werden schließlich so eine Führungsperson finden, und wir müssen jetzt eigene Institutionen aufbauen für ihn – oder für sie, wie ich hoffe."

Soziale Netzwerke können politische Kettenreaktionen auslösen
Von "enormen Möglichkeiten" der Neuen Medien - zumal in Kombination mit den inzwischen schon klassischen Medien - sprach der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar. Die Selbstverbrennung des 26-jährigen Tunesiers Mohammed Buasisi am 17. Dezember 2010, die sein Cousin mit dem Smartphone filmte, woraufhin die Bilder vom Sender Al Dschasira verbreitet wurden – das habe die Proteste im Nahen Osten und eine Kettenreaktion ausgelöst.

"Die Bewegung 'Occupy Wall Street' ist ausgelöst worden durch das, was man auf dem Tahrir-Platz hat sehen können. Und das war wiederum der Anstoß dann im Westen zu sagen: 'Wir könnten oder sollten versuchen, etwas Ähnliches einleiten zu können.' Und dann, das ist fast die Krönung, dass es nämlich eine Parallelbewegung in Israel gegeben hat. Das heißt, auch diese Fronten innerhalb des Nahostkonflikts sind durch das Vorbild Tahrir-Platz überwunden worden. Und das finde ich sehr bemerkenswert. Das zeigt einfach auf, dass sozusagen unter den Rahmenbedingungen einer internetbasierten Mobilisierungsfähigkeit auf einmal Grenzen überwunden werden können, die uns solange sozusagen auch gelähmt haben."

Philosoph Dieter Mersch kritisiert "Mystifizierung des Internets"
Unumkehrbar, so Wolfgang Kraushaar, sei diese Entwicklung, wenn es auch - noch - ein "erhebliches Maß an Erfahrungslosigkeit" gebe und die Fantasie noch fehle, diese "neuen Möglichkeiten" des Internets zu nutzen. Der Philosoph Dieter Mersch indes gab zu bedenken:

"Ich glaube, dass wir mit einer Art von Mystifizierung des Internets und der internetbasierten Mobilisierung dabei sind, den Sinn des Politischen zu verlieren. Das ist das, was unklar bleibt in dem Ganzen. Das Politische als Bedingung dafür, dass sich Menschen überhaupt in einer bestimmten Weise Inhalte geben und darauf verständigen, wie sie eigentlich leben wollen."

Zum "Politischen" zu kommen, so die weißrussische Kunsthistorikerin und Kuratorin Lena Prents – zu einem Verständnis der Protestbewegungen darüber, was für eine Zukunft denn angestrebt werde - dazu könne die Kunst beitragen. Und sie erzählte über ihre Heimatstadt Minsk:

"Gerade finden wirklich ganz viele Künstlergespräche, Lesungen, Diskussionen, Vorträge statt, also es gab noch nie zuvor so eine große… ja, 'Bewegung' kann man fast sagen. Da gehen die Leute dann in Cafés und in Cafés finden solche Veranstaltungen statt, viel auch im Netz. Und man hat einfach festgestellt, dass man über die Kultur und über die Kunst ganz viele gesellschaftspolitische Themen ansprechen kann, unter dem Deckmantel sozusagen der künstlerischen Projekte. Und die Themen, die im offiziellen Diskurs tabuisiert werden oder marginalisiert oder gar verboten sind, das ist die Möglichkeit, dann über diese Themen im Rahmen von Kunst zu sprechen."

Auch der Vorschlag, eine Partei zu gründen, wurde gemacht: um Wege in die Zukunft zu suchen und zu organisieren. Diese Idee mutete fast schon altmodisch an.