Readymades von Kris Martin

Von Volkhard App |
Die Geschichte der Readymades schreibt der Objektkünstler Kris Martin fort - mit der Besonderheit, dass er die ausgewählten Dinge durch Reduktion entscheidend verändert. Die Kestnergesellschaft in Hannover präsentiert umfassende Schau des Belgiers.
Diese Schau beginnt draußen vor der Tür: Inmitten des Straßen- und Baustellenlärms schwingt von Zeit zu Zeit eine mächtige Kirchenglocke an einem rohen Gerüst. Doch sie läutet nicht, der Klöppel wurde entfernt. Das mag zunächst beunruhigen, denn sakrales Geläut ist für manchen ja auch Geleit durch den Tag. "For Whom” heißt diese Installation von Kris Martin:

""Die Stille ist ganz wichtig, denn der Betrachter sieht die Glocke - und sie macht keinen Lärm. Der wird dann im Kopf umso stärker. Der Titel wurde Hemingways Roman ‘For Whom the Bell tolls’ entnommen. Man kann nie wissen, für wen die Glocke schwingt. Milliarden Menschen passieren Milliarden Sachen jeden Tag. Wir sind nur kleine Individuen. Die Glocke schwingt ständig - aber was den Menschen genau passiert, davon hat man nur eine kleine Ahnung.”"

Neben der Glocke gehören die leeren, ratternden, schwarzen Anzeigetafeln zu den populärsten Objekten des Künstlers und haben schon eine wahre Ausstellungskarriere hinter sich - es sind Tafeln wie die im Bahnhof oder am Flughafen, aber die üblichen Informationen enthalten sie uns vor. Der moderne Mensch in seiner Orientierungslosigkeit.

Die Geschichte der Readymades schreibt Kris Martin auf diese Weise fort - mit der Besonderheit, dass er die ausgewählten Dinge durch Reduktion entscheidend verändert. Auch mit seinem riesigen, am Boden liegenden, jedoch begehbaren Heißluftballon hat sich der Belgier längst eingeprägt. Nicht wenige seiner Objekte gelten als existenzielle Metaphern. Kuratorin Susanne Figner:

""Er schichtet Bedeutungsebenen, spielt mit Kunstgeschichte, Philosophie und Musik, er spielt mit dem Alltag, mit Leben und Sterben, mit der Religion und tut das mit sehr viel Humor und literarischem Wissen.”"

Unterhaltsamer Philosoph und gehobener Entertainer - Kris Martin ist beides zugleich. Seine Objekte scheinen Zeitdiagnosen zu sein. Ist der Künstler aber auch ein Zeitkritiker?

""Ich bin gar kein Kritiker, ich habe nur Fragen. Und die transformiere ich in Bilder. Obwohl man meine Kunst konzeptuell nennen könnte - mir ist das eigentlich völlig egal. Es sind eben Bilder, die man angucken kann, und im besten Fall fangen Menschen an, darüber zu reflektieren.”"

Eine frühe, besonders verspielte Arbeit von Kris Martin liegt in Gestalt von Papierstapeln in einer Vitrine: Der Künstler hat Dostojewskis Roman "Der Idiot” mit der Hand abgeschrieben und dabei den Namen des Protagonisten durch den eigenen ersetzt. Martin hat sich so in die Weltliteratur eingebracht. Ausschlaggebend war der starke Eindruck bei der Lektüre:

""Dann habe ich gesagt: Ok, es gibt nur zwei Möglichkeiten. Die erste ist: Ich hab’s gelesen - und Schluss damit, ich mache nichts daraus. Die andere Möglichkeit ist: Ich identifiziere mich damit zu 100 Prozent - und so habe ich mich selbst, Kris Martin, reingeschrieben, und den Namen des Protagonisten Myschkin rausgeschmissen. Jetzt ist es also die Geschichte von einem Leben, das ich nie gelebt habe.”"

Immer wieder hat den Künstler die Figur des "Idioten” bewegt, wie diese Werkschau beweist. Vielerlei Objekte sind über die Räume und Etagen der Kestnergesellschaft verteilt. Auf manche wichtigen Arbeiten - auch solche, die sich mit kriegerischer Gewalt beschäftigen - hat man in Hannover verzichtet, dafür aber Raum gewonnen. Manchmal ist es zu viel Raum, dann wirken die Vitrinen und Objekte ein wenig verloren.

Während die gähnende Leere im großen, schönen Oberlichtsaal Teil der künstlerischen Konzeption ist, denn hier liegt das Kunstwerk den Besuchern buchstäblich zu Füßen - Konfetti wurde über den Boden gestreut, das nicht aus Papier, sondern aus Bronze besteht:

""Menschen feiern, und normalerweise verrottet das Konfetti, es verschwindet. In diesem Fall aber sind wir es, die verschwinden. Das Konfetti bleibt, denn es ist aus Bronze gemacht, einem ewigen Material. In zwei- oder dreitausend Jahren wird es das Konfetti noch geben - aber wir sind schon lange nicht mehr da.”"

Ein melancholisch stimmendes Konzept, der riesige Raum kann durch das Konfetti am Boden allerdings nicht wirklich bespielt oder gar aufgeladen werden. Ein Höhepunkt nebenan: acht hohe Felsbrocken mit winzigen Kreuzen obenauf. Wer denkt da nicht an die deutsche Romantik, an den "Morgen im Riesengebirge” von Caspar David Friedrich? Eine Installation, die durch ironische Anspielung und die unwirklichen Größenverhältnisse gefällt.

Gedanklich abarbeiten muss sich an den meisten Werken jedoch niemand: Sie fallen auf, laden zur Assoziation ein, sind aber selten sperrig, irritieren nicht auf Dauer. Ob sie, wenn man den Hintergrund und die fantasievolle Pointe einmal erkannt hat, noch sehr viel zu sagen haben? Oder bleiben einige stumm wie die Glocke vor der Tür? "Nachhaltig” ist immerhin die Installation mit dem Bronze-Konfetti auf dem Boden. Denn das trägt der Besucher an den Sohlen hinaus in die weite Welt, wenigstens in die Hannovers.