Reader's Corner

Im Netz ist jeder Leser ein Kritiker

 Literaturblogs sind dabei, die Karten der Literaturkritik neu zu mischen.
Literaturblogs sind dabei, die Karten der Literaturkritik neu zu mischen. © picture alliance / dpa / Simon Chavez
Von Sieglinde Geisel · 24.07.2015
Sie heißen Literaturcafé, Schöneseiten, Buzzaldrins Bücher - oder auch einfach Literaturen: Jenseits der klassischen Feuilletons sind Blogs dabei, die Karten der Literaturkritik neu zu mischen.
Mara Giese: "Die Menschen zum Lesen zu verführen und dazu zu bringen, zu Büchern zu greifen, zu denen sie sonst nicht greifen würden, sie neugierig auf Literatur zu machen, das ist meine Blog-Mission."
Wolfgang Tischer: "Die Mission des Literaturcafé ist natürlich zu vermitteln, dass, ich sag mal frei nach Karl Valentin, Bücher und Literatur Spaß macht, aber eben auch viel Arbeit."
Claus Heck: "Ich wollte Aufmerksamkeit für die Person und über die Person auf das Schreiben, aber ich wollte kein Blogger sein."
Literaturblogs haben in den letzten Jahren an Fahrt gewonnen: Auf einmal sind sie aus dem Literaturbetrieb nicht mehr wegzudenken.
Caroline Kraft: "Es ist ganz, ganz schwer, eine Typologie des Bloggers aufzustellen, das ist extrem vielfältig, extrem unterschiedlich."
Bersarin: "Da ich keine Publikationsmedien für mich selbst habe, da ich kein Journalist bin, da ich nicht für eine Zeitung schreibe und auch nicht die Energie so habe, mich jetzt auf dem Medienmarkt zu bewegen und dort, wie sagt man, Klinkenputzen zu gehen oder eben Artikel anzubieten, da habe ich gedacht, na, dann bloggst du halt, vielleicht liest das jemand, vielleicht lesen's mehr, vielleicht lesen's weniger."
Uwe Wittstock: "Das journalistische Schreiben für den Focus, das ist das Standbein, aber ab und zu möchte man auch mal so einen Schlenker nebenbei machen, und das ist dann der Blog."
Karla Paul: "Für mich ist es einfach wichtig, Liebe zur Literatur zu wecken."
Bloggertag, Bloggerlounge, Bloggerpaten
Auch die Verlage kümmern sich mehr und mehr um die Literaturblogger im Netz. Der Hanser-Verlag lädt zum Bloggertag ein, die Random-House-Verlage haben im März ein Bloggerportal eröffnet, und an der Leipziger Buchmesse wurde eine Bloggerlounge eingerichtet: 15 handverlesene "Bloggerpaten" durften im Frühjahr Rezensionen über die Nominierten des Buchpreises der Leipziger Messe verfassen. Nun zieht die Frankfurter Messe nach: Sieben "Buchpreisblogger" werden auf Facebook über die 20 Bücher diskutieren, die es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises schaffen.
Blogger müssen sich nicht an Regeln oder Schubladen halten. Sie geben sich ihre Aufträge selbst, und niemand redigiert ihre Texte. Sie schreiben, worüber sie Lust haben, ganz subjektiv und frei nach Schnauze:
"Wieder ist es geschehen, und ich koste ihn aus – diesen wundervollen Moment des vollkommenen Leseglücks. Süß wie Blütenhonig, prickelnd wie Ingwerlimo, himmlisch! Das Gefühl, ein besonderes Buch entdeckt zu haben, lässt stets das Herz glühen und den Mund lächeln. "Bora – Eine Geschichte vom Wind" von Ruth Cerha heißt meine Entdeckung. Der Roman hat das Glück buchstäblich durch meine Augen wehen lassen."
So klingt es, wenn Enthusiasten schreiben, in diesem Fall auf dem Blog "Klappentexterin". Denn die meisten Blogger sind Überzeugungstäter, sie schreiben, kommentieren und empfehlen aus Begeisterung. So auch Karla Paul. Sie führt den Blog "buchkolumne.de", ist auf Twitter, Facebook und Instagram präsent und gibt zwei Mal jährlich Buchtipps bei der Sendung "ARD Mittagsbuffet".
Karla Paul: "Es gibt für mich kein schöneres, perfekteres Medium als Bücher, ich bin damit schon so aufgewachsen, die haben mich in meiner Kindheit so begleitet, mich so begeistert, die haben mich in so vielen Situationen gerettet, mich weiter gebracht, und ich weiß, dass es eben ganz vielen Lesern auch so geht. Ich kann ein Buch fünf Mal lesen und werde fünf Mal ein verschiedenes Erlebnis damit haben. Das macht so viel im Kopf, das macht so viel mit uns Menschen, das bringt uns so viel weiter. Für mich gibt's nichts Schöneres, das ist wahrscheinlich wie für einen Koch, der aus bestimmten Nahrungsmitteln ein Essen zaubert, das die Menschen glücklich macht. Für mich machen Bücher die Menschen glücklich, und das würde ich gerne weitergeben."
Mara Giese: "Ich hab meinen Buchblog vor vier Jahren gegründet, das hat sich so ergeben, dass ich viele Jahre in einem Bücherforum aktiv war und da das Gefühl hatte, da rausgewachsen zu sein. Ich hatte dort nicht viele, die etwas mit meinem Büchergeschmack anfangen konnten, dann habe ich irgendwann beschlossen, meinen eigenen Blog zu gründen, um Platz zu haben für meine Gedanken und meine Ideen über Bücher, und das war dann eher so eine spontane Idee, über die ich nicht lange nachgedacht habe, und dann bin ich dabei geblieben, und dann hat sich in den letzten vier Jahren ganz viel entwickelt mit mir und meinem Blog."
Mara Giese hat ihren Blog Buzz Aldrins Bücher genannt:
"Der Name des Blogs war eine sehr spontane Entscheidung, die ich jetzt manchmal bereue, weil es immer etwas schwer zu erklären ist, der bezieht sich auf ein Buch, das ich vor vielen Jahren gelesen habe, das heißt "Buzz Aldrin, wo warst du in all dem Durcheinander?" Und da geht es eben um einen jungen Mann, der immer Zweiter ist im Leben und damit sich aber auch ganz wohlfühlt, immer so in der zweiten Reihe zu stehen und nicht so wahrgenommen zu werden, und da konnte ich mich damals sehr mit identifizieren, weil ich auch eher so ein bisschen im Hintergrund gerne gewesen bin, und da habe ich mich dann für den Namen entschieden. Und jetzt hat es sich eher so ins Gegenteil verkehrt, weil ich ganz schön in die erste Reihe getreten bin mit meinem Blog."
Dutzende von Blogs sind etabliert
"Buzz Aldrins Bücher" gehört zu den arrivierten Literaturblogs im Netz. Bei der Leipziger Buchmesse wurde Mara Giese von einem Kamerateam des Mitteldeutschen Rundfunks begleitet. Inzwischen haben sich Dutzende von Literaturblogs etabliert: 54books, schoeneseiten, literaturen, saetzeundschaetze – die Liste ließe sich fortsetzen. Die Szene ist gut vernetzt, Blogrolls verlinken auf empfehlenswerte Seiten – und doch stößt man dauernd auf Überraschungen. "Texte zur Ästhetik, Philosophie und Kunstkritik sowie vermischte Bemerkungen" werden auf einem Blog mit dem gediegenen Titel Aisthesis angeboten. Der Blogger schreibt unter dem Pseudonym Bersarin.
Mara Giese: "Es ist mir natürlich der Blog schon im Netz begegnet, aber das ist mir dann schon wieder eine Spur zu anspruchsvoll. Ich würde sagen, dass der dann wirklich Literaturkritik macht, während ich dann vielleicht so eher die Christine Westermann des Netzes bin."
Bersarin: "Man soll aus der äußersten Subjektivität heraus schreiben, aber eben darin nicht verharren, das Objekt, also den Gegenstand, im Fall von Büchern eben, das Kunstwerk nicht aus den Augen verlieren, weil das ist das Primat, was sich dort abspielt und nicht, was ich jetzt dabei beim Lesen empfinde, dass ich mich beim Gedicht sehr gerührt gefühlt habe, das mag ja schön für mich auch sein, aber sagt jetzt erst mal nicht viel über das Gedicht aus."
Die Frage, inwiefern sich Literaturblogger von Literaturkritikern unterscheiden, wird in der Szene heiß debattiert. "Literaturblogger wollen gar keine Kritiker sein" – unter diesem Titel veröffentlichte Caterina Kirsten von schoeneseiten.de im Börsenblatt einen vieldiskutierten Artikel:
"Obwohl sich gerade ein Wandel in der Wahrnehmung von Literaturblogs vollzieht, kommen Blogger immer wieder in die Verlegenheit, sich und ihr Tun rechtfertigen zu müssen. Das, was sie in ihren Blogs von sich geben, habe nichts mit Literaturkritik zu tun, es fehle ihnen an Wissen und Kompetenz. Diese Vorwürfe beruhen auf einem Missverständnis: Die meisten Blogger wollen nämlich gar keine Literaturkritiker sein, sie wollen das Feuilleton nicht eins zu eins ins Netz holen. Sie wollen über Literatur sprechen – auf ihre Weise. Wollen zur Lektüre anregen, Fragen aufwerfen, in einen Dialog treten. Dabei verfügen sie vielleicht nicht über die Werkzeuge der Literaturkritiker – dafür aber über andere."
Feuilletons und Buchblogs seien völlig unterschiedliche Dinge, meint ein Kommentator namens Tobi dazu im Netz. Für viele Leser seien die authentischen Einschätzungen von Bloggern interessanter als eine Kritik von einem professionellen Redakteur. Der Blogger sei viel näher am Konsumenten.
"Genau wie Tobi sehe ich mich nicht als Literaturkritikerin. Dazu habe ich tatsächlich zu wenig ,Fachwissen'."
So die Nutzerin Kerstin Scheuer in ihrem Kommentar:
"Ich habe einfach nur Spaß an guter Lektüre und gebe meine Leseerfahrungen als Vielleserin gerne weiter. Ich lege garantiert andere Maßstäbe bei meinen Rezensionen an, als es die professionellen Literaturkritiker in den Feuilletons tun. Ich denke aber, für den interessierten Leser kann gerade das von Vorteil sein."
Der Profi und seine Büchersäufer
Blogger verstehen sich in der Regel nicht als Kritiker – und umgekehrt gibt es auch nur wenige Feuilletonkritiker, die bloggen. Einer von ihnen ist Uwe Wittstock, Literaturredakteur beim "Focus":
"Seit drei, vier Jahren habe ich auch einen eigenen Blog, der heißt Die Büchersäufer, in dem ich eben auch Originalkritiken gelegentlich schreibe. Das ist ein anderes Gefühl, es ist auch eine Stilübung, verschiedene Tonlagen anzuschlagen, wenn ich etwas für den Blog schreibe, nehme ich mir das auch regelrecht vor, noch stärker und ungeschminkter meine Subjektivität auszustellen und mich dadurch auch angreifbarer zu machen. Wenn man für eine Publikation schreibt, die ja nun gleich in die Hunderttausende veröffentlicht wird, nimmt man eine etwas andere Haltung an. Die Öffentlichkeit erwartet dann vielleicht auch eine etwas andere Tonlage."
Der Name Die Büchersäufer ist, wie oft bei Blogs, auch hier Programm:
"Die Idee, die dahinterstand, war natürlich auch die, dass ich häufig mit Leuten gesprochen habe, die jetzt überhaupt nicht aus der Branche sind und gar nicht Literaturkritiker sind, aber das, was die zu Büchern erzählt haben, mir in dem Moment besonders eingeleuchtet hat, ein Tipp von Leser zu Leser quasi, und da gefiel mir dieses Bild der Leute, die an der Theke stehen und gemeinsam ein gutes Bier trinken aber vielleicht auch ein gutes Buch lesen, oder sich über ein gutes Buch locker unterhalten, sehr gut..."
Im Netz gibt es keine Regeln und keine Türhüter, denn auf seiner Website ist jeder sein eigener Herr. Literaturblogs ermächtigen ihre Autoren: Mara Giese hat sich aus eigener Kraft in die erste Reihe geschrieben, Bersarin pflegt im Netz eine Art privates Feuilleton im Stil der FAZ. Für den Schriftsteller Claus Heck wiederum war der Blog die einzige Möglichkeit, überhaupt zu publizieren:
"Dass ich einen Blog geführt habe, war aus der Not geboren. Ich wollte unter meinem Namen veröffentlichen, aber nach 350 vergeblichen Anträgen bei Stipendien, was mich Jahre gekostet hat, nach 100 Absagen von Verlagen, die mir alle geschrieben haben: nett, aber uninteressant, habe ich dann zwei Bücher geschrieben, die euphorisch vom deutschen Feuilleton rezensiert worden sind. Es ist ein Artikel im Kritischen Lexikon der deutschen Gegenwartsliteratur erschienen, es promovieren drei Leute über das, was ich getan habe, scheint ja alles doch nicht so uninteressant zu sein. Der Literaturbetrieb ist sehr, sehr seltsam."
Bei der Bewerbung um ein Stipendium im rumänischen Sibiu kam Claus Heck auf die Idee, sich ein Pseudonym zuzulegen. Sein Blog hieß Aleatorik, und daraus wurde ein Pseudonym samt fiktiver Identität: Aléa Torik ist eine junge Rumäniendeutsche aus Siebenbürgen:
"Hab dann sehr schnell gemerkt, dass ich eine personale Identität brauche, um zu sprechen, dass ich in irgendeiner Weise Ich sagen können muss, und dann kam dieses Stipendium in Sibiu, und dann bin ich auf die Idee gekommen, die Adresse des Blogs, nämlich Aleatorik, einfach in der Mitte zu trennen in einen Vornamen und einen Nachnamen zu verwandeln... und hab dann über viele Jahre die Identität der Aléa Torik beibehalten und hab das sozusagen langsam angereichert. Man schrieb mir: Ah, Sie kommen aus Rumänien, dann hatten Sie doch bestimmt Schwierigkeiten mit der Securitate, da dachte ich: ach, Securitate, stimmt! Ich habe Schwierigkeiten mit der Securitate! Dann hat man mich zu meinen Eltern befragt, klar, ich brauche natürlich Eltern, und hab mir zwei Eltern ausgedacht. Dann wollte man wissen, wo genau ich eigentlich herkomme, da war klar, Sibiu, dann wollte ich aber, dass das ein Dorf in der Nähe ist, und so langsam habe ich das angereichert."
Und so entwuchs dem Blog Aleatorik der Roman "Aléas Ich". Auch einen Verleger fand Claus Heck zufällig in der Blogosphäre: Unter den Bloggern von www.unendlicherspass.de war der Anwalt des Hamburger Osburg-Verlags, und dieser empfahl das Manuskript.
Seit einiger Zeit ruht der Blog aleatorik.eu. Aléa Torik wurde auf eine unangenehme Art geoutet: Ein Mann, der sich aufgrund der Blogbeiträge in diese Kunstfigur verliebt hatte, fühlte sich vom Autor betrogen und setzte ihm im Internet zu. Das ist das eine. Das andere ist Claus Hecks Enttäuschung über den Literaturbetrieb: Als Blogger sei man für die Verlage vor allem in der Rolle als Multiplikator interessant:
"Weil Verlage sich nicht für Blog-Literatur interessieren. Sie interessieren sich für Blogger, weil Blogger inzwischen die Funktion von Literaturkritikern übernehmen, weil der Platz in den Zeitungen für Literaturkritik immer weniger wird und der Platz in Blogs, im Netz unendlich groß ist, da können eine Million Leute über Bücher schreiben, von daher hat das Blog längst oder ist dabei, die Funktion des Feuilletons zu übernehmen."
Blogger kennen ihr Publikum besser
Tatsächlich steht die traditionelle Presse unter wirtschaftlichem Druck. Laut Thierry Chervel von der Online-Presseschau Perlentaucher hat sich die Anzahl der Kritiken in den letzten Jahren halbiert, auch die Honorare sind vom Spardruck betroffen. Die Wirkung von Rezensionen im klassischen Feuilleton ist bekanntlich schwer einzuschätzen. Literaturblogger wissen über ihr Publikum oft besser Bescheid.
Karla Paul: "Wenn ich Bücher poste, als Empfehlungen, z.B. bei der ARD-Sendung war es so, eine Freundin von mir ist Buchhändlerin und sagte, da kam tatsächlich eine Frau herein mit der kompletten Liste an Büchern, die ich empfohlen habe, und die wollte alle haben, und kam dann auch wieder zurück und hat gesagt, sie hat die jetzt ausgelesen, die waren so toll, ob sie nicht noch fragen kann, ob ich nicht noch mehr Empfehlungen habe."
Wenn man all ihre Kanäle zusammenrechnet – die Website, Facebook, Twitter sowie die Zuschauer ihrer ARD-Buchtipps –, dann erreicht Karla Paul nach eigener Schätzung an die 100.000 Leser pro Monat. In vielen Verlagen gibt es mittlerweile Bloggerbetreuer, die Rezensionsexemplare versenden und den persönlichen Kontakt pflegen.
Daniel Acksteiner: "Die Zeiten sind auf jeden Fall vorbei, wo man solche Anfragen ins Leere laufen lässt. So haben die Verlage anfangs agieren können, dass solche Anfragen per Email versandet sind, aber mittlerweile sind meine Kollegen angehalten, da drauf zu reagieren."
So Daniel Acksteiner vom Suhrkamp Verlag. Viele Verlage haben inzwischen eigene Literaturblogs: Bei Suhrkamp heißt dieser Blog Logbuch, bei Fischer hundertvierzehn.de, nach der Hausnummer, bei Ullstein Resonanzboden. Auf den Verlagsblogs schreiben hauseigene Autoren. "Mein Jahr ohne Udo Jürgens" heißt etwa eine Serie von Andreas Meier auf Logbuch Suhrkamp, es gibt Debatten etwa über Feminismus oder Experimente wie das "Fahrstuhlinterview" auf Resonanzboden. Kritiken allerdings findet man auf den Verlagsblogs keine. Hier kommen nicht die Leser zu Wort, sondern die Autoren.
Caroline Kraft vom Ullstein-Blog Resonanzboden:
"Im Prinzip wollen wir mit unserem Blog genau das machen im digitalen Raum, was wir auch mit unseren Büchern machen, nämlich Debatten anstoßen, auf spannende Autoren aufmerksam machen, und da bietet so ein Blog einfach eine großartige Möglichkeit, eine Ergänzung zum klassischen Verlegen zu sein. Weil es eben noch einmal schneller, aktueller ist."
Daniel Acksteiner: "Wir sind ein Team, bestehend aus Kollegen unterschiedlicher Abteilungen. Wir haben zum einen aus dem Lektorat natürlich die Kolleginnen, die einfach die besten Kontakte haben zu unseren Autorinnen und Autoren, die beispielsweise, wenn wir Ideen haben, dann direkt auf die Autoren zugehen können. Wenn Stefan Thome unterwegs ist in Südostasien und recherchiert für einen neuen Roman und da dann einfach schon mitzudenken, dass es natürlich ein sehr, sehr interessanter Inhalt für das Logbuch sein kann, eine Art Tagebuch zu führen über diesen Auslandaufenthalt."
Zurück zu den schreibenden Leserinnen und Lesern, die sich im Netz ihre Ecken eingerichtet haben. Sie können lesen, denken, schreiben, was sie wollen – doch wer nun heftige Debatten oder gar Verrisse erwartet, liegt falsch. Enthusiasten sprechen lieber Empfehlungen aus.
Karla Paul: "Ich will dann auch für mich schlechte Bücher nicht verreißen, weil für jemand anderen kann's ein gutes Buch sein. Aber meine Lebenszeit möchte ich, wenn's geht, nur mit guten Büchern verbringen und die dann auch weiterempfehlen. Und ich finde es einfach schöner, Bücher zu empfehlen, anstatt sie zu verreißen, finde ich, da haben die Leser dann auch mehr davon."
Mara Giese: "Wenn ich über mich persönlich spreche, würde ich einfach sagen, dass ich nicht unbedingt eine Kritik veröffentliche, sondern eine Empfehlung abgebe, und ich glaube, das ist auch der Grund, warum ich so viele Leser habe, weil ich authentisch Bücher empfehle."
Natürlich gibt es auch Bücher, die Mara Giese nicht gefallen.
"Die verreiße ich genauso authentisch, wie ich Bücher auch empfehle. Es passiert selten, aber wenn mir ein Buch nicht gefällt, dann sage ich es auch."
Während in den Zeitungen der Platz für das Feuilleton schrumpft, scheinen die Literaturblogs aufzublühen. Die meisten Blogs haben ein paar Hundert bis ein paar Tausend Besucher pro Tag – das ist zwar mit der Auflage einer Tageszeitung nicht zu vergleichen, aber in ihrer jeweiligen Community haben Literatur-Blogger durchaus Wirkung.
Claus Heck: "Das Feuilleton ist ja dabei, sich aufzulösen. Von daher sind Verlage natürlich daran interessiert, die Nachfolge-Organisation kennenzulernen, nämlich die Blogger. Die heute das machen, was früher der klassische Literaturkritiker gemacht hat, nämlich Bücher besprechen, Bücher irgendwie unter die Leute bringen, irgendwie thematisieren und der Blogger ist natürlich leichter zu beeinflussen als der Literaturkritiker."
Nette Mädels, die Bücher toll finden
Noch schärfer formuliert dies Wolfgang Tischer. Er betreibt mit literaturcafe.de einen der ältesten Literaturblogs, bestehend seit 1996. Das Literaturcafé geht über einen bloßen Blog hinaus, es ist als journalistische Plattform angelegt, die neben Rezensionen auch Podcasts und Videos anbietet. Wolfgang Tischer hat mit dem Begriff Blogger ein Problem:
"... weil Blogger jetzt gerade im Buchbereich immer so ein bisschen den Ruf haben, dass sie die Marketingschleudern der Verlage sind und dass die Verlage sie meist auch nur so sehen. Ich sage mal ganz provokant: so nette Mädels, die dann über die Bücher schreiben, die sie wahnsinnig toll fanden."
Damit, dass Literaturblogs nun die Rolle des Feuilletons übernehmen könnten, rechnet letztlich niemand. Blogger haben bei weitem nicht die Macht des klassischen Feuilletonkritikers, glaubt Claus Heck:
"Weil er nicht mehr das Pathos hat, das entsteht, wenn man glaubt, man könne gut von böse unterscheiden, man sei wirklich davon überzeugt, dass etwas ganz herausragend ist oder wirklich ganz, ganz schlecht. Der Literaturkritiker konnte ja mit diesem Pathos Dinge vernichten oder in den Himmel heben. Und das kann ein Blogger nicht. Ein Blogger kann sagen: Daumen hoch oder Daumen runter, gefällt mir oder gefällt mir nicht. Kaufen oder nicht kaufen."
Wolfgang Tischer: "Ich finde es teilweise auch unsäglich in Blogs, weil dann wirklich nur Inhaltsangabe erfolgt, und am Schluss heißt es, ah, die Hauptperson hat mir aber gar nicht gut gefallen, und deswegen fand ich das Buch blöd. Dieses Kriterium findet man in Blogs ja sehr häufig: Mag ich die Hauptperson, fand ich das Buch toll, und sind die Personen schlecht, mag ich das Buch nicht."
Bersarin: "Bei vielen beobachte ich eine sehr starke Subjektivierung. Dagegen ist erstmal nichts zu sagen, wenn es darüber auch hinausgeht, natürlich gehen wir an die Literatur alle heran mit unserem eigenen Blick, unseren Welterfahrungen, unserem Weltverständnis, aber Literatur soll ja auch gerade dazu da sein, das aufzubrechen. Und wenn ich so bei manchen Blogs lese, habe ich eher den Eindruck, das ist so wie − Küchenkuschelblogs, so kulinarische Empfehlungen, das ist dann auch nicht viel anders ... hat so etwas von Sarah Wiener, nicht, wir geben Essenstipps. Und Literatur ist in meinen Augen wesentlich mehr. Was mir fehlt, ist dieser profunde Gehalt von Literaturblog-Texten, die eben über das "ich empfinde" und "ich sehe das so" hinausgehen, und gleiches gilt für die Diskussionsstränge, dass da also kaum Debatten sind, von Polemiken ganz zu schweigen. Es ist sehr nett, dass wir da alle so freundlich sind, aber mir ist diese Atmosphäre zu kuschelig."
Der große Vorteil von Bloggern ist ihre Unabhängigkeit, zumindest wenn sie sich nicht von Verlagen umgarnen lassen. Weder müssen sie Rücksicht nehmen auf die vermeintlich wichtigsten Neuerscheinungen, noch müssen sie sich um gute Beziehungen zu Autoren oder Verlagen kümmern.
Bersarin: "Das ist ja das Gute am Literaturblogger, dass er gar nirgends drin ist. Der kann Peter Handke verreißen und muss nicht Angst haben, dass er nie wieder von Peter Handke eingeladen wird zu einem Interview. Das ist der Vorteil des Literaturbloggers, dem kann das eigentlich egal sein."
Kleine Anerkennung in Form von Spenden
Die größte Gefahr für die Unabhängigkeit ist Geld. Schaltet ein Blog etwa Werbung eines Verlags, könnte dies zu einer Beißhemmung gegenüber dessen Büchern führen. Doch die meisten Literaturblogs sind zu klein, um für Werbekunden interessant zu sein. Manche Blogger meinen auch: Der Blog ist nicht Beruf, sondern Freizeit.
Karla Paul: "Ich versuche es für mich so zu regeln: Es gibt einen Hauptjob, da verdiene ich Geld, und alles was ich sonst in den sozialen Netzwerken, auf dem Blog und sonst wie mache, das mache ich einfach aus Leidenschaft zum Thema."
Wolfgang Tischer hat sich mit dem Literaturcafé dagegen eine Existenz aufgebaut – auch durch Engagements wie Moderationen und Vorträge, die sich aus seinem Blog ergeben haben.
"Mittlerweile bringt die Website durchaus Geld, über entsprechende Anzeigen, über Verkaufsprovisionen und diese Dinge. Es würde natürlich nicht unbedingt reichen für eine große Redaktionsmannschaft, aber es hat sich doch in den letzten Jahren entsprechend entwickelt, dass mehr Geld übrig bleibt, als es am Anfang der Fall war."
Mara Giese: "Ich habe kein Problem damit, mit meinem Blog Geld zu verdienen, wenn es diese Möglichkeit gäbe. Ich war letztes Jahr beim Bloggertag beim Hanser Verlag, und da wurde eine amerikanische Bloggerin vorgestellt, die sich finanziert über Spenden, Brainpickings, heißt der Blog, und dann habe ich gedacht, warum soll ich es nicht auch einmal probieren, also ich hatte nicht die Erwartung, dass ich mich damit finanziere, aber ich glaube, es gibt da draußen Menschen, die meine Arbeit zu schätzen wissen und dann gerne auch mal mir eine kleine Anerkennung zukommen lassen wollen. Ich hab jetzt mittlerweile 300 Euro damit eingenommen, das ist jetzt nicht wahnsinnig viel, aber es ist einfach eine Möglichkeit."
Die Bulgarin Maria Popova, die seit ihrem Studium in den USA lebt, ist mit brainpickings.org der Star unter den Literaturbloggern. Zahlen nennt sie keine, nur so viel, dass sie durch ihren Blog ein komfortables Auskommen habe, nicht über Werbung (abgesehen von der Verkaufsprovision bei Amazon), sondern durch Spenden. Brainpickings hat über eine Million Besucher im Monat. "Loving = Donating" heißt es in der Spendenbox für Beträge zwischen 7 und 25 Dollar – die Einladung auf einen Kaffee oder ein gutes Abendessen.
Maria Popova: "I read and write from the minute I wake up to the moment I go to sleep at night."
(Ich lese und schreibe von dem Moment an, in dem ich aufwache bis zu dem Moment, in dem ich schlafen gehe.)
Keine Minute lässt Maria Popova ungenutzt verstreichen. Bereits vor dem Frühstück liest sie auf dem Crosstrainer, während der Mahlzeiten überfliegt sie die Zeitung, beim Fahrradfahren hört sie Podcasts. Von Montag bis Freitag erscheinen auf ihrem Blog jeweils drei Texte pro Tag (zwei kurze und ein langer), von 8 bis 23 Uhr postet sie in jeder Stunde vier Tweets, das alles nach einem Redaktionskalender, in dem sie über Neuerscheinungen und Jahrestage Buch führt. "A labor of love" nennt Maria Popova ihren Blog Brainpickings, doch es ist mindestens so sehr ein Werk eiserner Disziplin. Dabei verfügt sie über ein enzyklopädisches Wissen, das sie modern aufbereitet. Ihr Anspruch ist hoch, sie orientiert sich an den Klassikern. "Timeless and timely" – zeitlos und zeitgerecht, so sollen die Bücher sein, über die sie sich äußert:
"We've been infected with this kind of pathological impatience that makes us want to have the knowledge but not do the work of claiming it. I mean, the true material of knowledge is meaning. And the meaningful is the opposite of the trivial. And the only way to glean knowledge is contemplation. And the road to that is time."
(Wir sind infiziert mit dieser krankhaften Ungeduld, wir wollen das Wissen haben, nicht aber die Mühe, es zu erringen. Die wahre Natur von Wissen besteht in Sinn. Und Sinn ist das Gegenteil von Trivialität. Der einzige Weg, Wissen zu erringen, ist Kontemplation. Und der Weg dorthin ist Zeit.)
So Maria Popova in einem Interview mit Krista Tippett in der Gesprächsreihe "On Being".
Die Leidenschaft zeigen können
Fast 50 Jahre ist es her, seit Hans Magnus Enzensberger 1970 in seinem "Baukasten zu einer Theorie der Medien" darüber nachdachte, wie eine Wechselwirkung von Sender und Empfänger aussehen könnte. Heute sind wir so weit: Jeder Empfänger kann ein Sender sein, jeder Leser ein Kritiker. Doch die Konsequenzen sind noch kaum absehbar.
Karla Paul: "Ich habe damals tatsächlich als Journalistin angefangen, habe da auch versucht, möglichst neutral zu sein, inzwischen habe ich aber festgestellt, dass ich gar nicht neutral sein will. Ich will ganz offen meine Liebe und meine Leidenschaft für manche Verlage, für manche Bücher, für manche Autoren zeigen können und da auch ein bisschen emotionaler sein, als man als Journalist unbedingt sein kann."
Literaturblogs haben eine andere Sprache entwickelt, um über Literatur zu sprechen. Sie sind subjektiver als Kritiken im Feuilleton, daher auch leichter konsumierbar. Ob sich daraus eine Konkurrenz ergibt?
Uwe Wittstock: "Erstens einmal: Konkurrenz belebt das Geschäft, das ist schon mal gut. Zweitens: Wenn man denn glaubt, die gedruckte Literaturkritik ist wirklich gut, dann sollte sie vor einer nur online publizierten Literaturkritik keine Angst haben. Ich denke, das ist eine Form auch von intellektuellem Wettbewerb, der nur gut sein kann, der eben in verschiedenen Medien stattfindet."
Claus Heck: "Was mir an vielen Literaturblogs nicht gefällt, ist, dass sie zwar auf der einen Seite zwar die Funktion des Feuilletons übernehmen und Literatur kritisieren, dass sie selber aber nicht literarisch sind."
Niemand kann vorhersehen, wie sich die Gravitationskräfte zwischen den Feuilletons und der Blogosphäre verschieben werden. Im Moment ist im fluiden Medium des Internet alles in Bewegung, im Austausch.
Maria Popova: "We have not even had a full generation live and die with it. And I think, like any territory to which we bring the pioneer spirit is bound to have both the good and the evil. And we're not going to know how it turns out until much, much, much later. But in the meantime, the decisions we make, the microscopic decisions that we make daily, shape it."
(Es gibt noch keine ganze Generation, die mit dem Internet gelebt hat und damit gestorben ist. Ich denke, wie in jedem Territorium, das der Pioniergeist betritt, werden wir auch hier beides haben: das Gute wie das Böse. Erst viel, viel, viel später werden wir wissen, was dabei herauskommt. Aber bis dahin wird das Internet geformt durch die mikroskopischen Entscheidungen, die wir jeden Tag treffen.)
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