Raulff: In "magischen Kontakt mit dem Autor" kommen

Moderation: Nana Brink · 06.06.2006
In Marbach eröffnet Bundespräsident Horst Köhler am Dienstagabend feierlich das Literaturmuseum der Moderne (LiMo). Die Ausstellung umfasst Exponate von Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts. Durch Manuskripte und Lebenszeugnisse werde ein magischer Kontakt zu den Literaten hergestellt, sagte der Direktor Ulrich Raulff im Deutschlandradio Kultur.
Brink: Heute wird das LiMo eröffnet. Es handelt sich natürlich nicht um Limonade, sondern das ist die Abkürzung für das Literaturmuseum der Moderne in Marbach. Ganz feierlich wird es eröffnet mit Bundespräsident Köhler, der ist in Schwaben groß geworden wie auch die ganz Großen der deutschen Literatur. Friedrich Schiller ist in Marbach geboren und Friedrich Hölderlin hat hier gewirkt. Jetzt gesellt sich also zum Deutschen Literaturarchiv, das seit 1955 in Marbach beheimatet ist, also ein Literaturmuseum der Moderne. Wir sind jetzt verbunden mit dem Direktor des neuen Museums Prof. Ulrich Raulffs. Herr Raulffs, Sie haben kürzlich erklärt, das Literaturmuseum soll ein Sichtglas der Literatur sein. Was genau meinen Sie denn damit?

Raulff: Wir meinen damit, dass wir zeigen wollen in dieser neuen Ausstellung im LiMo in einer sehr konsequenten, fast radikalen Weise, was sich von der Literatur der Moderne, das heißt der Literatur des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts im Archiv bewahrt hat. Wir wollen alles zeigen, was dieses Archiv zeigen kann, die großen Manuskripte, die Briefe, die Lebenszeugnisse und so weiter. Alles!

Brink: Was wird genau ausgestellt? Sie haben gesagt, alles. Was unterscheidet denn dann das Literaturmuseum von einer Bibliothek?

Raulff: Eine Bibliothek ist eine Büchersammlung. Wir sammeln ja Autografen und Bücher und Lebenszeugnisse. Das heißt, wir können große Manuskripte zeigen, wie zum Beispiel das Manuskript von Kafkas "Prozess". Wir können Briefe zeigen, Telegramme, wir haben ein Telegramm von Marlene Dietrich an Erich Kästner, und solche Dinge. Wir zeigen das Taufkleidchen von Thomas Mann unmittelbar neben der Totenmaske von Nietzsche, ein ganz schwerromantischer Auftakt in der Vitrinenzeile, die Lebenszeugnisse zeigt.

Brink: Ist das nicht sehr schwierig, wenn man meinetwegen jetzt, Sie sagen, das Taufkleidchen von Mann hat, was sagt denn das aus über seine Literatur, oder andersrum gefragt, wie kann man denn Literatur museal vermitteln, ohne dass es langweilig wird, also sich nur in Taufkleidchen oder Haarlocken oder zerfledderten Manuskriptseiten erschöpft?

Raulff: Na ja, das ist natürlich das Kunststück, was wir schaffen müssen. Wir müssen diese Manuskripte, die Briefe, die Bücher, die wir haben, müssen wir so zeigen, dass sie attraktiv sind, auch zum Anschauen. Das tun wir mit Hilfe bestimmter für uns konstruierter Vitrinen und einer geschickten Lichtführung. Die liegen da, die sehen aus wie Rohdiamanten. Aber das, was Sie ansprechen, diese anderen Dinge, die so ein bisschen kurios wirken, also Taufkleidchen und Damenpistole von Klages (Anmerk. d. Red.: Name wie gehört), Röntgenfoto von Jaspers, diese Sachen, die wir auch zeigen, die sagen Ihnen natürlich unmittelbar überhaupt nichts über die Literatur, aber sie vermitteln Ihnen vielleicht und sie vermitteln sehr vielen unserer Besucher einen Kontakt, einen geradezu magischen Kontakt mit dem Autor, der hinter diesen Manuskripten, der hinter diesen Schriftstücken steht, und das darf man nicht gering schätzen. Auch das ist ein legitimer Weg zur Literatur.

Brink: Das ist ja auch ein bisschen eine Entzauberung. Also wenn man das Taufkleidchen sieht oder Sie haben gerade gesagt ein Röntgenbild von Jaspers, werden da nicht auch die Dichter und Denker ein bisschen entzaubert oder ins Normale zurückgeholt oder ist es vielleicht gerade Ihre Absicht, das zu tun?

Raulff: Es ist immer so eine merkwürdige Doppelbewegung darin. Natürlich entzaubern Sie auf der einen Seite und sagen, all das waren auch nur Menschen, sterbliche Menschen, kranke Menschen und so weiter. Aber gleichzeitig haben diese Dinge ja auch eine merkwürdige Art von Magie, von rätselhafter Präsenz, und das überträgt sich auf die Druckwerke und so weiter. Also dieser Prozess von Entzauberung und Wiederverzauberung, der hängt immer ganz eng und dicht zusammen.

Brink: Was hat Sie denn in der Beziehung besonders fasziniert, also wo Sie gesagt haben, das habe ich in der Hand, jetzt habe ich plötzlich ein anderes Verhältnis zu diesem Dichter?

Raulff: Ja, häufig ist es ja gerade das ganz Banale. Ira Mazzoni hat das in der "Taz" sehr schön beschrieben, wenn Benn ein Gedicht "Ach, das Erhabene" auf die Speisekarte des Bahnhofsrestaurants von Hannover schreibt, und auf der einen Seite wird für Rouladen geworben und auf der anderen Seite seufzt Benn dem Erhabenen nach, dann haben Sie wirklich das Erhabene und das Banale sozusagen als zwei Seiten ein und desselben Dokuments in der Hand. Das ist schon etwas ganz Eigentümliches, und das vermittelt Ihnen im Übrigen auch einen Schlüssel zu Benn und zu seiner Lyrik.

Brink: Was heißt denn genau Literaturmuseum der Moderne? LiMo, das ist ja auch die Abkürzung, bedeutet das, dass nur Autoren des 20. Jahrhunderts ausgestellt werden?

Raulff: Es bedeutet, dass wir Autoren, literarische Autoren, aber auch ideengeschichtlich bedeutsame Autoren, also Philosophen und andere Kritiker des 20. Jahrhunderts ausstellen und des beginnenden 21. Also wir hören nicht irgendwo auf und sagen, so, jetzt beginnt die Postmoderne oder nach der Gruppe 47 ist Schluss, sondern wir führen fort, und deshalb haben wir am Schluss auch immer eine leere Vitrine da stehen, um zu sagen, es geht weiter, die Literatur entsteht weiter, es wird weiter geschrieben, und wir sammeln weiter.

Brink: Gibt es einen besonderen Schwerpunkt, meinetwegen der Literatur zwischen '33 und '45, die es ja auch gegeben hat, und welche Rolle spielt eigentlich auch die DDR-Literatur?

Raulff: Wir haben seit jeher eine sehr große Sammlung, einen Sammlungsschwerpunkt bei der Exilliteratur, speziell beim Expressionismus. Marbach hat sehr viele Autoren und ihre Nachlässe, ihre Archive aus der Immigration zurückgeholt. Wir haben auch eine bedeutende Sammlung von NS-Literatur, das heißt von Leuten, die weiter geschrieben haben, im Lande geblieben sind und weiter geschrieben haben zwischen '33 und '45. Und wir haben auch einen dritten großen Schwerpunkt bei der DDR-Literatur. Wir haben erst jüngst den Nachlass von Peter Hacks erworben.

Brink: Auffällig ist ja, dass das Literaturarchiv in Marbach den Zusatz "deutsch" trägt, aber das Literaturmuseum nicht. Hat das irgendwie eine besondere Bewandtnis, warum nicht, gibt es in dem Sinne keine Nationalliteratur?

Raulff: Doch, natürlich zeigen wir auch im LiMo die deutschsprachige Literatur. Dass es in der Nomenklatur, dass das Deutsche jetzt nicht so eine Rolle spielt, das hat nicht so furchtbar viel zu bedeuten. Natürlich ist der Teil der Moderne, den wir zeigen, immer ein Ausschnitt einer weiteren über Deutschland hinausgehenden Moderne. Wir sprachen ja gerade also schon von der Literatur der Immigration. Wir haben einfach sehr viele Zeugnisse deutscher Literatur, die in Kalifornien oder in Australien, Neuseeland, denken Sie an Karl Wolfskehl, dessen Nachlass wir besitzen, entstanden sind. Also da tut man vielleicht schon gut daran, das Deutsche nicht so furchtbar hoch zu hängen, wie es noch im Falle des Schillernationalmuseums der Fall gewesen ist.

Brink: … oder jetzt beim Deutschen Historischen Museum in Berlin.

Raulff: … oder da zum Beispiel, ja.

Brink: In der Literaturszene wird ja gerade heftig diskutiert Peter Handke und seine umstrittenen Äußerungen zum serbischen Diktator Milosevic. Inwieweit muss man denn Leben und Werk eines Schriftstellers zusammen sehen, wie ist denn da Ihre Vorgehensweise im Museum?

Raulff: Na ja, bei uns endet zum Beispiel die Vitrinenreihe, in der wir gedruckte Zeugnisse der Literatur, also Bücher ausstellen, endet mit einem verlesenen und sehr stark annotierten, unterstrichenen und so weiter. Manuskript von dem "Don Quijote" von Handke, mit dem Handke durch Spanien gegangen ist, und drin als Lesezeichen Supermarktquittungen aus serbischen Supermärkten. Also Sie sehen, da ist diese aktuelle Realität ganz nahe, und da berühren wir tatsächlich auch den aktuellen Streit.

Brink: Aber Sie kommentieren ihn nicht?

Raulff: Wir kommentieren ihn nicht. Das ist auch nicht unsere Aufgabe. Wir sind ein Archiv, wir sammeln, und wir unterscheiden nicht in Gut und Böse. Wir moralisieren nicht. Und ich würde sagen im Übrigen, Handke, das hat zwei Seiten, da ist einmal der Künstler und da ist der künstlerische Wert der Arbeiten von Handke, und das andere ist jetzt ein Streit, der sich zunehmend politisiert und in dem es zunehmend um Politik und Moral geht.

Brink: Vielen Dank für das Gespräch!