Nicht ohne meinen Feind

Das Ideal einer Stadt, wo sich Menschen unterschiedlicher Herkunft ständig untereinander austauschen, ist fern: Man bleibt unter sich, schmort im eigenen Saft - und pflegt seine Vorurteile, hat der Journalist Ramon Schack beobachtet.
Kürzlich trank ich an einem Berliner S-Bahnhof eine Tasse Kaffee. Es war viel Trubel. Und durch babylonisches Sprachengewirr drangen Wortfetzen an mein Ohr. Worte, die ich so schon lange nicht mehr gehört hatte, nicht so laut, so intensiv und mehrfach wiederholt. Von "Ungeziefer" und "Viechern" wurde gesprochen und Ausländer waren gemeint.
Die Tiraden kamen aus einer biertrinkenden Runde in Blaumännern und Arbeitskleidung. Schließlich setzte ich mich zu ihnen und fragte sie, was der Grund für ihren Fremdenhass sei, wo sie doch Gäste eines Imbiss waren, dessen Inhaber ein Türke ist.
Sie wussten keine Antwort, betonten aber immer wieder, so wie sie würden alle denken, die östlich der Berliner Mitte wohnen. Ich stellte mir verbitterte Stammtischgespräche vor, nicht weit entfernt vom Regierungsviertel, von elitären Salons der Berliner Republik, von teuren Straßenzügen der linksliberalen Bürgerlichkeit und nicht weit entfernt von den Quartieren der Migranten in all ihrer Vielfalt.
Was lässt eine Stadtgesellschaft derart auseinanderfallen?
Unwillkürlich fragte ich mich, was verbindet alte und neue Bewohner Berlins miteinander? Was ist der Kit, der Nachbarschaften und Bezirke zusammenhält? Was macht Straßen, Kanäle, Brachen oder Grünanlagen zu Grenzen? Was lässt eine Stadtgesellschaft derart auseinanderfallen, die einst stolz auf ihr rauhes, aber tolerantes, mulitkulturelles, gar solidarisches Klima war?
Also fuhr ich am folgenden Wochenende nach Lichtenberg, Marzahn und Hellersdorf, klapperte Imbissstuben ab und stand an Biertresen, setzte mich hin, wo andere vorübergehen, sprach Menschen an, mit denen sonst keiner redet. Und erfuhr, sie dachten wirklich alle so und machten keinen Hehl daraus.
Political Correctness, die hohe Schule gesellschaftlicher Gepflogenheiten, war den Arbeitern und Arbeitslosen fremd, die ich östlich von Berlin-Mitte traf. Aus dem verschrienen, aber angesagten Neukölln weiter westlich kommend sah ich mich mit einem Integrationsproblem der anderen Art konfrontiert, von dem aber niemand spricht.
Der französische Soziologe Henri Lefebvre prägte Ende der 1960er Jahre den Begriff der "verdichteten Unterschiedlichkeit". Er stellte sich vor, eine Stadt werde gerade dadurch ideal, dass viele Menschen unterschiedlicher Herkunft sich ständig austauschen und auf engstem Raum gesellschaftliche Fragen aushandeln.
An den Orten, die ich besuchte, findet dieser Austausch nicht statt: Man bleibt unter sich, schmort im eigenen Saft.
Angst und Vorurteile, das wissen Wahlforscher seit Jahrzehnten, sind häufig ein paar Straßen weiter zu Hause. Wer ihn noch nicht erlebt hat, den peinigt die Aversion gegen den sozialen Abstieg in seinem Quartier. Wer dagegen ausländische Nachbarn hat, der fürchtet sich nicht vor Fremden.
Der modernen Stadtgesellschaft ist ihre Solidarität abhanden gekommen
Mehr als früher braucht der unzufriedene Stadtbewohner einen Feind, dem er lautstark seinen Ärger in die Schuhe schieben kann. Vor einem Jahr während des letzten Gaza-Krieges schrien jugendliche Demonstranten, sie würden Juden hassen. Dabei kennen sie nicht einen persönlich. Und entdecken sie zufällig einen unter den Passanten, dann werden sie schon mal gewalttätig – gegen einen Menschen, der nicht für sie verantwortlich ist. Sie diskriminieren rücksichtlos, weil sie sich selbst diskriminiert fühlen.
Mein Fazit: Der modernen Stadtgesellschaft ist die Solidarität abhanden gekommen, auf welche die alte Arbeiterbewegung so stolz war. Dafür scheinen Milieus zu vielfältig, geistig und kulturell zu weit voneinander entfernt. Scheinen!
Denn wo Vielfalt, wo Unterschiede in Lebensentwürfen und Identitäten als gemeinsame Stärke begriffen werden, wo auseinandergesetzt und gestritten wird, ohne den Respekt voreinander zu verlieren, kann durchaus Zusammenhalt entstehen, ein Selbstbewusstsein, Bewohner ein und derselben Stadt zu sein. Das ist kein Traum, das ist eine Aufgabe!
Ramon Schack, Jahrgang 1971, ist Diplom-Politologe, Journalist und Publizist. Er schreibt für Neue Zürcher Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Welt, Berliner Zeitung, Wiener Zeitung, Handelsblatt. Sein Buch "Neukölln ist Nirgendwo. Nachrichten aus Buschkowskys Bezirk" erschien Ende Juni 2013 im Verlag 3.0 Zsolt.

Ramon Schack© Quelle: privat