Rassismus bei Hannah Arendt

Blind für den Widerstand der Kolonisierten

52:30 Minuten
Historische Fotografie der Philosophin Hannah Arendt, mit einer Zigarette in der Hand, 1969.
Wegweisende Analysen totalitärer Macht: Hannah Arendt im Jahr 1969 © picture alliance / AP Images
Iris Därmann im Gespräch mit René Aguigah · 22.11.2020
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Hannah Arendt erforschte zeitlebens, wie totalitäre Regime Menschen entrechten. Manche ihrer Schriften sind nicht frei von rassistischen Mustern. Wie passt das zusammen? Ein Gespräch über blinde Flecken mit der Philosophin Iris Därmann.
Der US-Präsident schickt Soldaten in eine Stadt im Süden der Vereinigten Staaten, um einen eskalierenden Konflikt zu befrieden. Schwarze Aktivistinnen und Aktivisten fordern ihre Rechte ein, ein Teil der weißen Bevölkerung stellt sich dagegen.
Es ist das Jahr 1957, erst drei Jahre zuvor wurde den Kindern von Afroamerikanern das Recht zugesprochen, überall im Land öffentliche Schulen zu besuchen. Aber die Stadt Little Rock im Bundesstaat Arkansas schließt sie vom Unterricht einer örtlichen Highschool aus. Neun Schülerinnen und Schüler trotzen dem Widerstand eines weißen Mobs und werden schließlich von Soldaten zur Schule eskortiert.

Kritik an der schwarzen Bürgerrechtsbewegung

Bilder der Ereignisse gehen um die Welt und lösen heftige Debatten aus. Auch Hannah Arendt ergreift das Wort. Doch mit ihrem Essay "Reflections on Little Rock" stößt sie bei liberalen Leserinnen und Lesern auf großes Unverständnis, erklärt Iris Därmann, Philosophin und Kulturwissenschaftlerin an der Berliner Humboldt-Universität. Was viele befremdet habe in der gefährlich aufgeheizten Situation: Arendt übt Kritik an der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.
In ihrem Essay werfe sie den Aktivistinnen und Aktivisten vor, "dass sie ihre Kinder für ihren eigenen politischen Kampf, instrumentalisiert hätten", so Därmann. Dem liege Arendts Überzeugung zugrunde, "dass Fragen von Schule und Erziehung keine öffentlichen Angelegenheiten sind, sondern eher in die Privatsphäre von Eltern gehören". Die Kinder und Jugendlichen seien in Arendts Augen "noch keine politischen Subjekte" gewesen und hätten nach ihrer Auffassung daher Anspruch auf den Schutz dieser Privatsphäre gehabt, da von ihnen noch nicht erwartet werden könne, "dass sie sich handelnd und sprechend in eine öffentliche Welt einbringen".
Hat Arendts hehrer Anspruch an politisches Handeln, das sie ausschließlich als einen souveränen Akt erwachsener, mündiger Bürger verstand, ihr womöglich den Blick auf entscheidende Aspekte des Konflikts verstellt? War ihr nicht bewusst, wie eng die Frage politischer Teilhabe gerade an den Zugang zu Bildung geknüpft war, um den hier gestritten wurde, weil er einer ganzen, rassistisch gebrandmarkten Bevölkerungsgruppe vorenthalten blieb? Hat sie nicht gesehen, dass die Jungen und Mädchen, die als die "Little Rock Nine" in die Geschichte der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung eingehen sollten, längst einer politischen Gewalt ausgeliefert waren, die ihren Familien die Chance nahm, über Fragen ihrer Bildung und Erziehung frei zu entscheiden?

Schlecht informiert über die Geschichte der Sklaverei

Hannah Arendt sei offenbar weder über die Geschichte der transatlantischen Sklaverei besonders gut informiert gewesen, noch über die Lynchmorde an Afroamerikanern im Süden der USA, sagt Iris Därmann. Mindestens gravierende Fehleinschätzungen in Fragen des Rassismus wurden Arendt auch in Bezug auf frühere Schriften vorgeworfen.
In der Anfang der 1950er-Jahre zunächst in den USA und dann auf Deutsch erschienenen Studie "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", die als ihr polittheoretisches Hauptwerk gilt, kommt Arendt auch auf die Kolonialherrschaft in Afrika zu sprechen. In der Absicht, die Mechanismen der kolonialen Macht zu analysieren, übernehme sie weitgehend die Sichtweise der europäischen Eroberer und beschreibe afrikanische Menschen als naturhaft, geschichtslos und unfähig zu organisiertem politischem Handeln, so Därmann.

Ein Zerrbild von Afrika aus der Sicht der Kolonisatoren

Arendts Aneignung des Blicks der Kolonisatoren reicht bis zu der ungeheuerlichen Bemerkung: "Es ist diese mit ihrer Weltlosigkeit gegebene Unwirklichkeit der Eingeborenenstämme, die zu den furchtbar mörderischen Vernichtungen und zur völligen Gesetzlosigkeit in Afrika verführt hat." Wer verführte hier wen wozu? Will Arendt andeuten, dass Afrikanerinnen und Afrikaner, die der Willkür und Brutalität skrupelloser Kolonialherren zum Opfer fielen, daran selbst schuld waren?
Porträt der Berliner Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann vor einem schwarzen Hintergrund.
Forschungen zu Gewalt und Widerstand: die Berliner Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann© privat
Für Därmann kommt in dieser Passage Arendts Verständnis des Begriffs "Rasse" auf den Punkt: "‚Rasse‘ ist genau dies in ihren Augen, dass Menschen ‚weltlos‘ und in äußerster Naturnähe leben. Also, sie findet etwas, das sie eigentlich als ideologisches Konstrukt entlarven will, in gelebter Praxis in Afrika. Das macht es so verstörend."

Gedankliche Nähe zu Heideggers "Schwarzen Heften"

Auf unheimliche Weise komme es dabei zu einer Verschränkung von Arendts Denken mit der Philosophie ihres einstigen Lehrers Martin Heidegger, "der in seinen ‚Schwarzen Heften‘ mit Blick auf die Juden formuliert hat: Die Juden leben eh schon nach dem Rasseprinzip und mögen sich jetzt nicht darüber beschweren, dass es auf sie selbst angewendet wird."
Auf einen ganz ähnlichen Kipppunkt laufe Arendts Charakterisierung der Kolonisierten hinaus, so Därmann: "Es scheint so, als ob wegen ihrer angeblichen Weltlosigkeit und Nacktheit und Tiernähe – und des Entsetzens, was dadurch hervorgerufen wird – Afrikanerinnen und Afrikaner die Vernichtungsgewalt mit evoziert haben. Und die ‚Verführung‘ dazu gibt ihnen eine gewisse Mitverantwortung."

Bürokratie der Vernichtungsgewalt: Es geht um die Täter

Wie ist es möglich, dass eine Autorin, die so intensiv über Antisemitismus und Unterdrückung nachgedacht hat, gleichzeitig derart diskriminierend und fundamental abwertend auf afrikanische Menschen schaut?
"Ich kann es auch nicht wirklich auflösen oder erklären", sagt Därmann. "Ich kann eigentlich nur ihre Blindheiten und blinden Flecken diesbezüglich feststellen." Arendt habe die Menschen des afrikanischen Kontinents offensichtlich nicht als politisch handelnde Subjekte wahrgenommen. Das hänge auch mit dem eingeschränkten Blick ihres Forschungsinteresses zusammen.
"Ihr kommt es offenbar darauf an, die Täterperspektive zu beschreiben, die Genese und die bürokratischen Strukturen der Vernichtungsgewalt, also wo der Rassismus, der Rassenwahn, ein Instrument totalitärer Herrschaft wird."
Doch die Erfahrung derer, die kolonisiert werden, bleibe außen vor: "Hat es dort ein Maß an Widerstand gegeben, ein Aufbegehren gegen die Kolonisierung und auch eine Form der Fremdperspektivierung der Weißen?" All das spare Arendt aus, sagt Därmann. An diesem Beispiel werde deutlich, wie wichtig es sei, in der Forschung Gewaltgeschichte und Widerstandsgeschichte miteinander zu verbinden.

Arendt nicht aus der Verantwortung entlassen

Wie können wir heute mit einer Denkerin umgehen, die wir eigentlich vital brauchen, um für die Gleichheit der Rechte für alle Menschen zu argumentieren, und die gleichzeitig so erhebliche innere Widersprüche aufweist? Wir sollten Arendt aus der Verantwortung für diese Widersprüche nicht entlassen, sagt Därmann, gerade weil sie sich zu den zentralen Werten der europäischen Aufklärung bekannt habe.
Därmann verweist auf die indische Philosophin Gayatri Chakravorty Spivak, die das Erbe der Aufklärung mit einem Kind verglichen hat, das aus einer Vergewaltigung hervorging. Es gehe darum, dieses Kind zu lieben, so Därmann mit Spivak, "im Namen der Freiheit, der Gleichheit und der Geschwisterlichkeit", für die auch Arendt vehement eingetreten sei.
Aber gerade von der Warte der Menschenrechte und des von Arendt eingeforderten "Rechts, Rechte zu haben", dürfe man die problematischen Stellen in ihrem Werk nicht einfach als "zeittypisch" abtun, "sondern muss ihr abverlangen, auch dort genau hingeschaut zu haben – was sie nicht getan hat."
(fka)

Iris Därmann: "Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie"
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2020
510 Seiten, 38 Euro

Maike Weißpflug: "Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken"
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2019
318 Seiten, 25 Euro

Liliane Weissberg: "Die verlorene Unschuld. Hannah Arendt als Politologin"
In: Ulla Kriebernegg, Gerald Lamprecht, u.a. (Hgg.): "‚Nach Amerika nämlich!‘ Jüdische Migrationen in die Amerikas im 19. und 20. Jahrhundert"
Wallstein Verlag, Göttingen 2012
359 Seiten, ca. 25 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

Kommentar zu Verschwörungstheorien: Ist die Philosophie zu zweiflerisch?
Wo man auch hinsieht: Verschwörungstheorien haben Konjunktur. Die streng rationale Philosophie scheint da ein probates Gegenmittel. Wäre da nur nicht diese Tradition, die selbst den Verdacht nährt, dass nichts ist, wie es scheint. David Lauer kommentiert.

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