Rasante Reise in die 60er Jahre

Vorgestellt von Bernd Wagner |
Der Berliner Schriftsteller Bernd Cailloux nimmt den Leser in seinem Roman "Das Geschäftsjahr 1968/69" mit auf eine rasante Reise in die 60er Jahre: Eine Gruppe junger Männer versucht sich in Beuysscher Devise, jeder sei ein Künstler, und entwickelt und produziert ein Stroboskop.
Wenn die Lektüre eines Buches zu einer immer rasanter werdenden Reise wird, deren Ende man fürchtet, kann man das Tempo verlangsamen, indem man sich einzelne Sätze notiert. Sätze wie:

"Wir verkauften etwas, und wir verkauften einen Teil von uns gleich mit. Wir würden also schneller altern. "

Wie gelangt man zu solch gleichermaßen präzisen wie offenen Sätzen, die einmal Durchlebtes oder Gedachtes in einem bewusst geformten Zusammenhang zu wiederholen und im Nachhinein zu klären scheinen. Nun, zuerst will es tatsächlich durchlebt werden. Die geschriebene Poesie setzt zumindest den Versuch, poetisch zu leben voraus. Die Jugend ist die bevorzugte und häufig einzige Periode für diesen Versuch, dem Leben eine andere Dimension als die der verschiedenen "Notwendigkeiten" abzugewinnen. Sie ist dabei nicht wählerisch und kann ihr Herz an die nebensächlichsten Dinge hängen, beispielsweise an ein Stroboskop genanntes Gerät, das durch rhythmisch aufzuckende Blitze die Welt in ein irreales Flackerlicht taucht. Im Düsseldorf des Jungprofessors Beuys siedelt sich eine Gruppe junger Männer an und versucht dessen Devise, jeder sei ein Künstler, auf ihre Weise in die Wirklichkeit umzusetzen, das heißt, indem sie eben jenes Stroboskop entwickelt und produziert.

"Wir haben eine Erfindung gemacht, verstehst du, etwas völlig Neues wird geschehen, etwas epochal Umwälzendes. Wie in der Antike, so wie einst Prometheus das Licht brachte für den Anfang der Kultur, so bringen wir den Blitz für den Beginn der Gegenkultur. Das wird eines Tages reich belohnt werden. "

Zu dieser Gruppe, die sich ihrem entspannten Selbstverständnis gemäß "Muße-Gesellschaft" nennt, gehören ein technisches Bastelgenie, ein Wirtschaftstratege, ein russischstämmiger Alternativvisionär und das Parzivalgemüt, der wenn auch zweifelnde, so doch reine Tor, der von sich behauptet:

"Wo ich nicht gutgläubig sein kann, kann ich überhaupt nicht sein. "

Er ist der geborene Erzähler, ohne den wir solche Geschichten nicht kennen würden, weil er sie zu ernst nimmt, als dass ihm ihr bloßes Erleben genügen könnte. Er muss sie erzählen, um mit ihnen fertig zu werden. Er hat den "Traum, einen dritten Raum zwischen Kunst und Kommerz zu schaffen", in dem gemeinsam eine Idee umgesetzt, der gleiche Lohn gezahlt und ansonsten der Lust an der Freundschaft gefrönt wird, am tiefsten verinnerlicht und wird am meisten unter seinem Zusammenbruch leiden. Gleichzeitig ist er es, der von Selbstzweifeln angenagte Provinzler, der von Anfang an das skeptische Gefühl nicht los wird, "dass hier etwas Falsches passierte". Er gehört beiden Fraktionen an, in die sich die Gruppe bald spaltet: in die eine, die bei Tag arbeitet, und die andere, die diese Arbeit, angeregt durch die frisch aus Amsterdam oder Antwerpen importierten Drogen, kommentiert.

"Es lief die längst überfällige Feier der reinen Existenz, ein Gefühl der bedingungslosen Zustimmung, das alles Lebendige und selbst die tote Materie erhellte. Der Zweifel fehlte, und dieses Fehlen hinterließ keine Lücke. Die pure Euphorie war’s, sonst nichts, ein Gefühl, das kein Gedanke verderben konnte. Von einer Sekunde zur anderen war jede Regung, jedes Ding, jeder Teppichfussel auf überwältigende Weise recht und gerade dadurch ein Schock, als sei das gesamte Glücksaufkommen des vergangenen und des künftigen Lebens in einem einzigen Moment zusammengezogen. "

Der Preis für das Glücksaufkommen ist hoch, die Kostenrechnung in diesem Geschäftsbericht beträchtlich. Während sich die Tagarbeiter im Netz ökonomischer Notwendigkeiten verfangen, sinken die Nachtaktiven immer tiefer in eine Traumwelt, aus der sie erst der "Gilb" der Hepatitis aufschreckt. Der Kreis der Verschworenen bricht auseinander und schleudert sie in verschiedene Richtungen: in den Drogensumpf und in Krankenhäuser die einen, an den Schreibtisch einer Immobilienfirma oder in Aussteigerherbergen rund um den Globus die anderen. Der Erzähler rettet sich nach Hamburg, wo er den idealistischen Teil des Unternehmens bewahren will, wofür er von seinen Kompagnons mit Exkommunikation bestraft und von einer jungen Wohnkommunardin mit einer wundervollen Liebesgeschichte belohnt wird.

"Das war sie wieder, Régines Stimme für besondere Momente, der in sich zurückgenommene, fast tonlose Ton, als spräche nicht sie, sondern ihre Seele aus ihr – dieser Schlafkammerton traf in mein Innerstes. Und für einige Augenblicke war eine Ahnung in meinem Kopf stehen geblieben: Was auch immer mir später widerfahren sollte, davor werde ich einmal im Glück gewesen sein. "

Bernd Cailloux erzählt in einer berückenden Mischung aus Lockerheit und Intensität. Er widersteht dabei verschiedenen Versuchungen. Weder stutzt er die Ereignisse auf das Maß ihrer im Nachhinein offenbar gewordenen Erfolglosigkeit zurecht, noch inszeniert er eine amüsante Show über die sechziger Jahre, noch liefert er ein Abbild dieser Epoche, das irgendeine Art von allgemeiner Gültigkeit beansprucht. Cailloux geht es um anderes. Ihm geht es um Selbstbefragung, um das Verständnis dessen, was sich an der Schaltstelle zwischen dem Ausgreifen des jugendlichen Idealismus’ und dem späteren Leben mit dem, was davon in den Händen zurückbleibt, abspielt.

Nachbemerkung 1 (für Leser aus den neuen Bundesländern): Der Unterschied, ob man in Salzgitter oder Salzwedel aufwächst, kann beträchtlich sein. Ein großer Teil der Verständnisschwierigkeiten zwischen Ost und West beruht auf der Gewöhnung an unterschiedliche Rauschmittel. Die "extreme Redefreude" des Westlers, die "gesteigerte Hirntätigkeit, die einen massenhaft differenzierende Sätze und Empfindungen auf die Zunge legte", sind nicht zuletzt Resultate seiner Erfahrungen mit Haschisch und verwandten Drogen. Der Alkohol hingegen, dem der Ostler seine Räusche verdankte, verleitet zum lauten und nicht zum leisen Sprechen, nicht zur Differenzierung sondern zur Zuspitzung.

Nachbemerkung 2 (für Leser aus den alten Bundesländern): siehe Nachbemerkung 1. Sollten Sie eigene Erinnerungen mit 1968 verbinden und heimlicher oder unheimlicher Kritiker sein, so vermeiden Sie die Feststellung, dass eigentlich alles ganz anders war. Es bringt sie nur in Verdacht, von Leben und Literatur gleichermaßen unbeleckt zu sein.


Bernd Cailloux: Das Geschäftsjahr 1968/69
edition suhrkamp, Frankfurt am Main/2005