Rasante Industrialisierung

01.06.2010
Hans Woller zeigt in seinem Buch eine Gesamtdarstellung der italienischen Geschichte im 20. Jahrhundert, stellt unter anderem den Staat landwirtschaftlicher Prägung um 1900 dar und macht die rasante Industrialisierung in den folgenden Jahrzehnten deutlich.
Eine der Eigenarten, mit denen Italien die Schwelle zum 20. Jahrhundert überschritt, war seine landwirtschaftliche Prägung noch um 1900. So beschreibt es der Münchener Historiker Hans Woller in diesem äußerst lesenswerten Band. Um den Entwicklungsrückstand gegenüber Nordeuropa aufzuholen, unterstützte der gerade einmal 30 Jahre junge Staat eine rasante Industrialisierung.

Dass damit ein gesellschaftlicher Umbruch einherging, eine Arbeiterklasse heranwuchs und breite Schichten politisiert wurden, hatte die liberale Regierung unterschätzt. An den Rändern wuchs der Extremismus, und kurz vor dem Ersten Weltkrieg stand Italien kurz vor dem Bürgerkrieg.

Der Aufstieg Benito Mussolinis Anfang der Zwanzigerjahre erklärt sich vor diesem Hintergrund: Faschistische Schlägertrupps destabilisierten die öffentliche Ordnung, Gewerkschaften riefen zu Generalstreiks und Fabrikbesetzungen auf, die liberalen Kräfte fürchteten eine Staatskrise. Mussolini, der die Elite klug einband, schien das kleinere Übel zu sein, und so etablierte der Faschistenführer nach dem "Marsch auf Rom" von 1922 innerhalb von drei Jahren ein diktatorisches Regime.

Der "Duce", so zeigt Woller, war in gewisser Weise ein Avantgardist: Durch den geschickten Einsatz moderner Massenmedien festigte er seine Unterstützung in der Bevölkerung, und die Freizeitorganisation Dopolavoro ("nach der Arbeit"), die "von der Wiege bis zur Bahre" für alles Sorge trug, sicherte ihm trotz sinkender Lohnzahlungen den Konsens der Massen. Erst mit dem kläglich gescheiterten Angriff auf Griechenland 1940 und den Misserfolgen der Feldzüge in Afrika begann die Zustimmung zu bröckeln.

Aufschlussreich sind die Querverbindungen, die Hans Woller im gesamten Band zur Wirtschaftspolitik zieht. Denn bis zum Ende des Kalten Krieges bestimmten Protektionismus und staatliche Subventionen die italienische Ökonomie und ermöglichten den Aufstieg zur Industrienation. Die Folge war aber auch eine Staatsverschuldung, die einen vollkommenen Stillstand nach sich zog: In Forschung und Bildung wurde nicht mehr investiert.

Nach dem Ende des Kalten Krieges zerfiel Anfang der 90er-Jahre das Parteiensystem. Die Mailänder Staatsanwälte brachten das Ausmaß der Korruption unter den Politikern, in den Ministerien, in den staatlich kontrollierten Unternehmen und in der Privatwirtschaft ans Licht. Davon hat sich das Land bis heute nicht erholt. Dies war die Geburtsstunde von Berlusconis Partei Forza Italia.

Nur was die Gegenwart betrifft, fällt Wollers Urteil ein wenig zu unscharf aus. Zwar benennt er die demokratischen Defizite und das erschütternde Ausmaß der Wirtschaftskrise, aber er spricht von einer allzu simplen Dämonisierung Berlusconis, setzt auf die zivilgesellschaftlichen Kräfte Italiens und nennt das Profil der Regierung und der Opposition "schärfer als je zuvor". Davon kann keine Rede sein.

Über den erfolgsträchtigen Populismus der Lega Nord und die Unterwanderung legaler Strukturen durch die organisierte Kriminalität hätte man gern mehr erfahren. Denn vielleicht ist schon längst wieder eine Phase angebrochen, in der ein durchaus prekärer Massenkonsens erreicht wurde.

Besprochen von Maike Albath

Hans Woller: Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert
C. H. Beck, 480 Seiten, 26,95 Euro.