Randfigur der Ereignisse
12.10.2010
Ein fast 100-jähriger, blinder Bulgare blickt im Roman "Solo" von Rana Dasgupta zurück auf sein Leben, auf Scheitern und verpasste Chancen. Im rasanten zweiten Teil, der von den Tagträumen seines traurigen Helden bestimmt wird, kommt Dramatik auf, die den Leser in den Bann zieht.
In einer zerfallenden Wohnung eines bröckelnden Plattenbaus in Sofia sitzt Ulrich vor laufendem Fernseher - ein hundertjähriger, blinder Mann, der sich an seine Vergangenheit erinnert. Ein Kind des 20. Jahrhunderts, ein durchschnittlicher Mensch, kein Held, Opfer, nicht Täter, eine Randfigur der Ereignisse, keine prägende Gestalt.
Als Kind hat Ulrich erlebt, wie sein Vater, ein erfolgreicher Eisenbahnmanager, geistig gebrochen aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte. Die Familie verarmt. Aus Geldnot muss Ulrich seiner großen Leidenschaft entsagen - er bricht das in Berlin aufgenommene Chemiestudium ab. Wieder in Sofia bekommt er einen Job als Buchhalter. Dort wird er Zeuge, wie sein bester Freund, ein Kommunist, hingerichtet wird. Später verliebt sich Ulrich, heiratet - und verliert seine Frau, die mit dem gemeinsamen Sohn nach Amerika auswandert.
Den Zweiten Weltkrieg überlebt er unbeschadet. Unter dem kommunistischen Regime jedoch wird seine Mutter verhaftet und in ein Lager eingewiesen. Bei ihrer Rückkehr ist sie geistig gestört und wird zur Alkoholikerin. Als die neuen Machthaber entdecken, dass der unauffällige Buchhalter über Chemiekenntnisse verfügt, wird er zum Aufbau einer Chemiefabrik eingesetzt. Für seine Verdienste belohnt man ihn mit eben jener Wohnung, in der er jetzt seinem Ende entgegensieht. Und damit endet der erste Teil des Buches.
Im Folgenden eröffnet Rana Dasgupta eine zweite Realitätsebene, die der Fantasie. Dort erlebt Ulrich all jene Abenteuer, die ihm sein wirkliches Leben nie geboten hat. Es folgt eine wilde Geschichte um Talent und Gier, Verzweiflung und Erfolg, Verbrechen und Sühne. Im Mittelpunkt stehen drei junge Bulgaren, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus erwachsen wurden. Da gibt es den äußerst talentierten jungen Geiger, der in New York zum umjubelten Star aufsteigt. Befreundet ist er mit einem Hungerpoeten, der mit seiner Schwester aus Sofia floh, als deren Mann, ein kapitalistischer Raubritter, ermordet wurde. Sie baut eine Firma auf, die Sicherheitsarchitektur verkauft. Die Schicksale der Drei kreuzen sich, bis alles zusammenbricht und mit einem Mal der alte Mann selbst wieder in der Geschichte auftaucht. Ende offen.
Während Ulrichs Leben vorhersehbar, und damit seine Geschichte ein Stück weit langweilig und in ihrer Verkürzung auf wenige Ereignisse formelhaft wirkt, gibt der Autor im zweiten Teil des Romans seiner Fantasie die Sporen. Die Geschichten schlagen nun Haken, stecken voll verblüffender Wendungen, wecken Neugier auf das Schicksal der Protagonisten. Sie besitzen jene Dramatik und Erlebnisweite, Gefühlstiefe und Aufgeregtheit, die die Wirklichkeit nur selten parat hält.
Ulrichs Fantasiegestalten sind, was er nie war: Akteure ihres Leben. Gebannt folgt man ihren verschlungenen Wegen. Es sind unsere Fantasien, unsere kleinen Fluchten aus der Misere der Wirklichkeit, so scheint Rana Dasgupta sagen zu wollen, die uns am Leben erhalten. Sie bringen Farbe in unseren Alltag.
Besprochen von Johannes Kaiser
Rana Dasgupta: Solo
Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Heller
Blessing Verlag, München 2010
464 Seiten, 21,95 Euro
Als Kind hat Ulrich erlebt, wie sein Vater, ein erfolgreicher Eisenbahnmanager, geistig gebrochen aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte. Die Familie verarmt. Aus Geldnot muss Ulrich seiner großen Leidenschaft entsagen - er bricht das in Berlin aufgenommene Chemiestudium ab. Wieder in Sofia bekommt er einen Job als Buchhalter. Dort wird er Zeuge, wie sein bester Freund, ein Kommunist, hingerichtet wird. Später verliebt sich Ulrich, heiratet - und verliert seine Frau, die mit dem gemeinsamen Sohn nach Amerika auswandert.
Den Zweiten Weltkrieg überlebt er unbeschadet. Unter dem kommunistischen Regime jedoch wird seine Mutter verhaftet und in ein Lager eingewiesen. Bei ihrer Rückkehr ist sie geistig gestört und wird zur Alkoholikerin. Als die neuen Machthaber entdecken, dass der unauffällige Buchhalter über Chemiekenntnisse verfügt, wird er zum Aufbau einer Chemiefabrik eingesetzt. Für seine Verdienste belohnt man ihn mit eben jener Wohnung, in der er jetzt seinem Ende entgegensieht. Und damit endet der erste Teil des Buches.
Im Folgenden eröffnet Rana Dasgupta eine zweite Realitätsebene, die der Fantasie. Dort erlebt Ulrich all jene Abenteuer, die ihm sein wirkliches Leben nie geboten hat. Es folgt eine wilde Geschichte um Talent und Gier, Verzweiflung und Erfolg, Verbrechen und Sühne. Im Mittelpunkt stehen drei junge Bulgaren, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus erwachsen wurden. Da gibt es den äußerst talentierten jungen Geiger, der in New York zum umjubelten Star aufsteigt. Befreundet ist er mit einem Hungerpoeten, der mit seiner Schwester aus Sofia floh, als deren Mann, ein kapitalistischer Raubritter, ermordet wurde. Sie baut eine Firma auf, die Sicherheitsarchitektur verkauft. Die Schicksale der Drei kreuzen sich, bis alles zusammenbricht und mit einem Mal der alte Mann selbst wieder in der Geschichte auftaucht. Ende offen.
Während Ulrichs Leben vorhersehbar, und damit seine Geschichte ein Stück weit langweilig und in ihrer Verkürzung auf wenige Ereignisse formelhaft wirkt, gibt der Autor im zweiten Teil des Romans seiner Fantasie die Sporen. Die Geschichten schlagen nun Haken, stecken voll verblüffender Wendungen, wecken Neugier auf das Schicksal der Protagonisten. Sie besitzen jene Dramatik und Erlebnisweite, Gefühlstiefe und Aufgeregtheit, die die Wirklichkeit nur selten parat hält.
Ulrichs Fantasiegestalten sind, was er nie war: Akteure ihres Leben. Gebannt folgt man ihren verschlungenen Wegen. Es sind unsere Fantasien, unsere kleinen Fluchten aus der Misere der Wirklichkeit, so scheint Rana Dasgupta sagen zu wollen, die uns am Leben erhalten. Sie bringen Farbe in unseren Alltag.
Besprochen von Johannes Kaiser
Rana Dasgupta: Solo
Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Heller
Blessing Verlag, München 2010
464 Seiten, 21,95 Euro