Raj Patel und Jason W. Moore: "Entwertung"

Wie sieben billige Dinge den Kapitalismus stützen

Im Vordergrund das weiße Buchcover von "Entwertung", im Hintergrund entlassene Fiat-Arbeiter
Fiat-Arbeiter demonstrieren in Italien gegen ihre Entlassung © Ansa/dpa
Von Johannes Kaiser · 05.11.2018
In "Entwertung" analysieren Raj Patel und Jason W. Moore, worauf unser Wirtschaftssystem basiert. Ein ungewohntes Werk. Denn so neu und radikal hat bisher niemand die Wirkungen des Kapitalismus' begründet.
Nein, das ist kein Buch über Schnäppchenjäger. Ganz im Gegenteil: Hier wird jenem Kapitalismus der Prozess gemacht, der auf Kosten der überwältigenden Mehrheit der Menschen billige Produkte hervorbringt. Billig: Das bedeutet hier entwertet. Auf Entwertung ist nach Ansicht des Historikers Moore und des Ökonomen Patel das derzeitige Wirtschaftssystem angewiesen. Der Kapitalismus lebt ihrer Ansicht nach von sieben billigen Dingen: Natur, Arbeit, Fürsorge, Nahrung, Energie, Geld und Leben.
Wie sie zusammenhängen, veranschaulichen die beiden am Beispiel der Vermarktung eines Hähnchens: gezüchtet, um möglichst viel Fleisch in möglichst kurzer Zeit anzusetzen, aufgezogen in möglichst großer Menge, ist es typisch für billige Natur. Da von jedem Dollar, den ein Fastfoodhähnchen kostet, nur zwei Cent bei den Arbeitern auf den Farmen und in der Produktion landen, ist es zugleich ein Beispiel für billige Arbeit. Da Fließbandverarbeitung in der Geflügelindustrie sehr anstrengend ist, werden die dort tätigen Arbeiter eher krank. Dass sie in den eigenen vier Wänden wieder gesundgepflegt werden, nennen die Autoren billige Fürsorge.
Da den Verbraucher die industriell produzierten Hähnchen sehr wenig kosten, sind sie billige Nahrung. Ihre Produktion von der Zucht bis zum Verzehr kostet viel Heizenergie. Notwendig dafür ist billige Energie. Kredite und staatliche Subventionen sorgen dafür, dass die Marktrisiken der Produzenten überschaubar bleiben. Ihre Profite sind dank billigen Geldes gesichert. Bleibt noch als letztes Element das billige Leben, das heißt die ungebremste Ausbeutung von Frauen, kolonisierten Völkern, Farbigen, Einwanderern, die – so die Autoren – jedes der sechs billigen Dinge möglich machen.

Patel und Moore wählen einen radikalen Ansatz

Der analytische Ansatz des Buches ist neu, radikal und ungewohnt. So hat noch niemand den Erfolg oder besser gesagt die desaströsen Wirkungen des Kapitalismus begründet. Patel und Moore bezeichnen die derzeitige Epoche als Kapitalozän. Die Stoßrichtung ihres Buches ist klar: das Kapital bestimmt nicht nur die Beziehungen zwischen den Menschen, sondern auch zwischen Mensch und Natur. Nur durch die siebenfache Entwertung kann es existieren und sich vermehren. Sie ist verantwortlich für den Erfolg des Kapitalismus.
Detailliert gehen die Autoren auf die Geschichte des Kapitalismus ein und verorten seine frühe Entstehung bereits im Mittelalter. Damals begannen die Eroberungszüge der Europäer: Völker in Asien, Afrika, Amerika wurden unterworfen und ausgebeutet, die Menschen dort als minderwertige Wilde der Natur zugeordnet und wie diese bedenkenlos ausgebeutet. Die Autoren zeigen anhand zahlreicher Beispiele, dass sich daran im Prinzip bis heute nichts geändert hat.
Am Ende ihres Buches nennen sie einige politische Initiativen wie die Bauernbewegung La Via Campesina oder das Movement for Black Lives, die dazu führen könnten, dass die Dinge eben nicht mehr billig sind, und so diese Art des zerstörerischen Kapitalismus verhindert werden kann. Man muss Patel und Moore in ihrer Kapitalismuskritik nicht in allen Punkten zustimmen. Doch ihre Thesen sind ein wichtiger Denkanstoß für die Debatte um die Zukunft des Kapitalismus.

Raj Patel und Jason W. Moore: "Entwertung"
Rowohlt Verlag, 2018
350 Seiten, 24 Euro

Mehr zum Thema