RAF-Aussteiger in der DDR

Schrankwand "Leipzig" statt Klassenkampf

RAF-Terroristin Suanne Albrecht tauchte in einem Wohnblock der Trabantenstadt Mahrzahn in Ost-Berlin unter.
Der "total spießige DDR-Alltag" war Resozialisierungsprogramm für RAF-Terroristen © dpa / picture alliance / ADN
Moderation: Ute Welty · 06.06.2015
Am 6. Juni 1990 wurde Susanne Albrecht verhaftet, eine der zehn RAF-Terroristen, die in der DDR Unterschlupf gefunden hatten. Trotz früher Hinweise habe man in der Bundesrepublik davon lange Zeit nichts wissen wollen, meint der Publizist Stefan Aust.
Heute vor 25 Jahren wurde in Berlin-Marzahn die frühere RAF-Terroristin Susanne Albrecht verhaftet. Seit Anfang der 1980er-Jahre hatte sie unter anderem Namen in der DDR gelebt, genauso wie neun weitere ehemalige RAF-Mitglieder.
Dem Publizisten Stefan Aust zufolge hatte man in der Bundesrepublik bereits frühzeitig konkrete Hinweise darauf, dass sich frühere RAF-Terroristen in der DDR aufhielten. Er glaube allerdings, dass man es damals gar nicht so genau habe wissen wollen.
"Wenn klar gewesen wäre, dass eine an der Entführung und damit auch indirekt Ermordung von Hanns Martin Schleyer beteiligte Person in der DDR Unterschlupf gefunden hat, das hätte eine Krise ohne Ende gegeben."
Ein "sozialistisches Gottesgeschenk" für RAF-Aussteiger
Für die RAF-Mitglieder sei die DDR eine Option für den Ausstieg gewesen, ohne den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen zu müssen – sozusagen ein "sozialistisches Gottesgeschenk". Aus den Terroristen seien dann "ganz normale DDR-Bürger" geworden:
"Die sind geradezu vorbildlich resozialisiert worden: Sie haben eine neue Identität gekriegt, sind unterrichtet worden darüber, wie sie jetzt sich zu verhalten haben", so Aust.
Geradezu skurril sei der Kontrast zwischen dem Leben als Terroristen und dem "total spießigen DDR-Alltag" gewesen, meint Aust.
"Da hat dann Inge Viett sich, wenn ich mich recht entsinne, eine Wohnung eingerichtet mit einer 'Schrankwand Leipzig'."

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Auf diesem Weg zur deutschen Einheit wurde eines auch klar, nämlich dass die Mauer zwischen Deutschland und Deutschland noch höher und der Graben noch tiefer war! Systematisch hatte die DDR, namentlich das Ministerium der Staatssicherheit Terroristen der Rote Armee Fraktion unterstützt und versteckt, darunter auch Susanne Albrecht, die gesucht wurde wegen des Mordes an Jürgen Ponto, dem Vorstandssprecher der Dresdner Bank. Enttarnt wurde Susanne Albrecht am 6. Juni 1990, was vom DDR-Kriminalamt und vom DDR-Innenministerium so dargestellt wurde:
O-Ton: Susanne Albrecht ist mit einer verkehrten Identität, also mit einem anderen Namen, mit dem Namen Ingrid Jäger 1980 in die DDR eingereist und wohnt seit dieser Zeit in der DDR. Die Herstellung der neuen Identität der mutmaßlichen RAF-Terroristin wurde nach dem bisherigen Stand der Überprüfung zum Teil in einem Ferienobjekt des ehemaligen MfS in Briesen, Bezirk Frankfurt/Oder vorgenommen. Entgegen allen Veröffentlichungen und Spekulationen möchte ich hier eindeutig erklären: Die bisher gefassten mutmaßlichen RAF-Terroristen sind nicht durch Stasi-Überläufer enttarnt worden.
Schäuble damals im Deutschlandfunk: Wir haben nichts gewusst
Herr Schäuble, Sie waren 1986/87 ja Kanzleramtsminister in Bonn. Haben Sie damals Informationen über einen möglichen Daueraufenthalt bundesdeutscher Terroristen in der DDR erhalten?
Es waren vage Hinweise auf den möglichen Aufenthalt der Terroristen in der DDR, aber die offiziellen Kontakte zur DDR, die haben eben gar nichts erbracht, weil die DDR schlicht gesagt hat, die sind nicht bei uns, wir haben das überprüft, das gibt es nicht, wir machen das nicht. Und da die Hinweise nicht konkret genug waren, um annehmen zu können, dass das nicht die Wahrheit ist, was die DDR sagt, wie wollten Sie da Druck ausüben?
Welty: Der damalige Innenminister und frühere Kanzleramtschef Wolfgang Schäuble im Interview mit dem Deutschlandfunk, der außer von vagen Hinweisen von nichts gewusst haben will. Ob das wirklich so war, das kann ich jetzt mit einem Kenner der Rote Armee Fraktion besprechen, mit Stefan Aust. Unter anderem hat der Publizist, Journalist und Herausgeber der "Welt" das Buch "Der Baader-Meinhof-Komplex" geschrieben. Guten Morgen, Herr Aust!
Stefan Aust: Guten Morgen!
RAF-Kenner Stefan Aust: Man wollte es nicht wissen
Welty: Für wie glaubwürdig halten Sie diese Aussage, dass der damalige Innenminister nur ein paar vage Hinweise hatte und deswegen auch keinen Druck ausüben konnte?
Aust: Na, es gab konkrete Hinweise sogar. Es hatte sich ein Bürger der DDR gemeldet und man ist der Sache nachgegangen. Aber ich glaube – das ist allerdings eine Mutmaßung –, dass man es gar nicht so genau wissen wollte. Denn stellen Sie sich mal vor, es wäre 100-prozentig herausgekommen, dass Mitglieder oder ausgestiegene Mitglieder der RAF – aktive waren ja auch zeitweise in der DDR –, dass die von der DDR aufgenommen, mit einer neuen Identität ausgestattet und unterstützt worden sind! Das hätte eine Abkühlung der deutsch-deutschen Beziehungen auf unter den Nullpunkt gebracht. Deswegen, glaube ich, wollte man das gar nicht so gern wissen. Ich weiß von den ehemaligen Stasi-Mitarbeitern, die dafür zuständig waren, ich kenne die nämlich – also inzwischen –, dass die immer davon ausgegangen sind, dass sozusagen unter der Hand man der Bundesrepublik bestätigt hat, ja, ja, aber rührt da nicht dran! Aber offiziell wollte man es wirklich nicht wissen.
Welty: Inwieweit war es für die Bundesrepublik vielleicht auch von Vorteil, nicht daran zu rühren?
Aust: Wenn klar gewesen wäre, dass eine an der Entführung und damit auch indirekt Ermordung von Hanns Martin Schleyer beteiligte Person in der DDR Unterschlupf gefunden hat, das hätte eine Krise ohne Ende gegeben. Auf der anderen Seite war es natürlich auch ein ganzes Stück praktisch! Zumindest, wenn man das aus der Sicht hinterher betrachtet. Diejenigen, die in der DDR untergekommen sind, waren ja nicht mehr am bewaffneten Kampf beteiligt. Das heißt, RAF-Mitglieder hatten sozusagen eine Möglichkeit, aus der RAF auszusteigen, den bewaffneten Kampf zu beenden, ohne den Rest ihres Lebens im Gefängnis zubringen zu müssen.
"Vorbildliche Resozialisierung" durch die DDR
Welty: Wie muss ich mir den Alltag von Susanne Albrecht und den anderen RAF-Aussteigern in der DDR vorstellen?
Aust: Die sind geradezu vorbildlich resozialisiert worden! Sie haben eine neue Identität gekriegt, sind unterrichtet worden darüber, wie sie jetzt sich zu verhalten haben, und dann sind sie sozusagen in den normalen sozialistischen Alltag integriert worden. Inge Viett zum Beispiel, die war dann sogar im Betrieb gewerkschaftlich aktiv, im Übrigen, soweit ich weiß, auch im Auftrage der Stasi ein bisschen unterwegs. Das heißt, sie hat dann auch mit ihren Betreuern aus dem Amt für Staatssicherheit auch Kontakt gehabt und hat auch immer den einen oder anderen Hinweis wohl gegeben, wenn ich mich recht entsinne.
Im Übrigen hat natürlich die Stasi das gemacht, was jeder Geheimdienst der Welt tut: Er versucht, alles zu erfahren über solche Gruppierungen. Man hat die natürlich endlos befragt und interviewt, hat darüber auch Protokolle angefertigt, an diesem Ort, der da eben auch erwähnt worden ist, das war so eine Art Ferienheim, da haben sie dann – so hat mir der Stasi-Offizier Helmut Voigt mal erzählt, der da zuständig gewesen ist –, da gab es dann die Gespräche unter dem Pflaumenbaum, dann haben die erzählt, was da in der RAF vor sich gegangen ist. Aber nachdem sie dann sozusagen eine neue Identität angenommen haben, sind sie dann ganz normale DDR-Bürger gewesen.
Spießiger DDR-Alltag mit Schrankwand Leipzig
Welty: Von heute aus betrachtet und auch nach dem, was Sie gerade schildern, die Gespräche unterm Pflaumenbaum: Es ist ja eigentlich schwer vorstellbar, dass das überhaupt funktioniert hat! Ein Terrorist, der – in Anführungszeichen – Großes im Sinn hat und in diesem kleinbürgerlichen DDR-Milieu leben soll!
Aust: Das war in der Tat auch geradezu skurril. Wir haben ja damals viele Informationen über das normale tägliche Leben in der DDR gehabt, da hat dann Inge Viett sich, wenn ich mich recht entsinne, eine Wohnung eingerichtet mit einer Schrankwand 'Leipzig', das war tatsächlich so, das würden wir sozusagen die östliche ...
Welty: Es gibt auch Fotos davon?
Aust: Ich glaube, ja, ich glaube, das hat es gegeben. Ich glaube, wir haben da auch mal Filmaufnahmen gemacht. Es war ein total spießiger DDR-Alltag, den die dann erlebt haben. Aber ehrlich gesagt, ich glaube, das Leben im Untergrund auf der Flucht vor der Polizei ist auch nicht gerade besonders fröhlich. Insofern, glaube ich, konnten die auch mal ein Stück durchatmen, konnten ihre Angst einerseits davor, erschossen zu werden bei irgendeiner Polizeiaktion, oder noch einmal wieder jemand anders entführen oder ermorden, sagen wir mal, zu müssen, dieses mit einem quasinormalen Leben einzutauschen, war für die natürlich geradezu ein Gottesgeschenk, ein sozialistisches Gottesgeschenk. Und die DDR hat natürlich auch ein weiteres Interesse daran gehabt, nämlich zu erfahren, wie funktionieren diese Gruppen und vor allen Dingen, wie können wir uns selbst dagegen wehren?
Schießübungen mit Christian Klar
Es ist nämlich nicht nur so gewesen, dass man die Aussteiger beherbergt hat, sondern man hat auch aktive Terroristen, Mitglieder der RAF wie zum Beispiel Christian Klar und ein paar andere, denen hat man sozusagen Urlaub in der DDR gegeben und hat mit ihnen auch Schießübungen zum Beispiel veranstaltet. Aber im Wesentlichen um herauszufinden, wie gut können die eigentlich schießen? Es gab zum Beispiel eine sehr interessante Operation auf einem Truppenübungsplatz, da wurde der Anschlag auf einen amerikanischen General – Kroesen hieß der, ich glaube, in Heidelberg – mithilfe einer Panzerfaust, der wurde nachgespielt. Weil die DDR-Behörden, also, die Stasi wollte wissen, wie das abgelaufen ist, ob das eigentlich geht.
Auch die Personenschützer der DDR hatten ein großes Interesse daran zu erfahren, um ihre eigenen Staatsmänner da zu schützen, um Parteigenossen zu schützen. Wie ist das vor sich gegangen, wie kann man sich gegen so etwas schützen? Und deshalb hat man diesen Anschlag nachgespielt, hat in einen alten Mercedes einen Schäferhund, einen etwas älter gewordenen Schäferhund aus Stasi-Beständen reingesetzt und hat dann mit einer solchen Panzerfaust – RPG soundso, glaube ich – auf dieses Auto geschossen. Dann ist dieser Schäferhund verletzt worden, dann hat man ihm auch noch mit einer Pistole den Gnadenschuss gegeben.
Gegen den verantwortlichen Stasi-Offizier wurde dann ermittelt, der wurde auch verurteilt, weil man ursprünglich davon ausgegangen war, die hätten das geübt und dann hätte es erst den Anschlag auf den amerikanischen General gegeben. Es hat sich aber dann herausgestellt, dass die Aussage dieses Stasi-Offiziers richtig war, der gesagt hat, nein, sie hätten es nachträglich gemacht, um festzustellen, wie das abgelaufen ist. Die haben sich verhalten, wie sich jeder Geheimdienst der Welt verhält, der sozusagen die Gegner des eigenen Feindes versucht, so genau wie es geht zu analysieren.
Vom Flughafen Schönefeld in den Nahen Osten
Welty: 25 Jahre nach ihrer Enttarnung spreche ich mit dem Publizisten Stefan Aust über den Aufenthalt der RAF-Terroristin Susanne Albrecht in der DDR. Herr Aust, wann hat die Staatssicherheit der DDR angefangen, sich für die RAF zu interessieren, sie auch zu unterstützen?
Aust: Vom ersten Tag an. Die RAF hat sich ja dadurch gegründet, dass man Andreas Baader, der wegen des Kaufhausbrandanschlags in Frankfurt verurteilt worden war, erst freigekommen ist, dann wieder inhaftiert worden ist, zu befreien. Unmittelbar nachdem das losging, sind ja die Baader-Befreier, sozusagen die Kerngruppe, aus der sich dann die RAF gebildet hat, in den Nahen Osten geflohen. Die Befreiung Baaders war ja in Westberlin. Und dann sind sie mit der U-Bahn nach Ostberlin rübergefahren und dann vom Flughafen Schönefeld aus in den Nahen Osten geflogen.
Und nach Unterlagen, die man später eben aufgefunden hat, hat die DDR von Anfang an gewusst, dass die durch die DDR, also durch Ostberlin hindurch zum Flughafen fahren, um wegzukommen. Als sie zurückgekommen sind, hat man also mindestens zwei der RAF-Mitgründer kurzzeitig ... ich will nicht sagen festgenommen, aber kurzzeitig mal beiseitegenommen, hat sie befragt, hat ihnen die Pistolen zurückgegeben und hat sie wieder nach Westberlin reisen lassen. Also, die wussten die ganze Zeit sehr genau Bescheid, was sich dort abspielte. Man kann nicht sagen, dass man denen sozusagen direkt und bewusst geholfen hat, aber man hat sie durchreisen lassen, hat sie ein klein bisschen unterstützt. Zumindest hat man nichts gegen sie unternommen.
Bei früherer Aufdeckung hätte massive Krise gedroht
Welty: Wir haben schon eine Menge den Konjunktiv benutzt oder geradezu strapaziert heute in diesem Gespräch, aber eine Frage möchte ich trotzdem noch stellen, auch im Konjunktiv: Was wäre passiert, wenn eine Susanne Albrecht vor dem Mauerfall enttarnt worden wäre? Hätte es die deutsche Einheit dann überhaupt gegeben?
Aust: Das ist sehr schwer zu sagen, ob es die deutsche Einheit gegeben hätte. Aber ich glaube, es hätte eine massive Krise gegeben, da bin ich absolut sicher.
Welty: 25 Jahre nach der Enttarnung der Terroristin Susanne Albrecht habe ich darüber mit dem Publizisten und RAF-Kenner Stefan Aust gesprochen. Dafür herzlichen Dank!
Aust: Ja, ich danke auch!
Welty: Und das Gespräch mit Stefan Aust für Deutschlandradio Kultur haben wir aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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