Rätselhaftes Sanddorn-Sterben

Die Zitrone der DDR

10:13 Minuten
Sanddornbeeren an einem Sanddornstrauch in der Nähe von Spremberg in der Lausitz.
Genügsamer Energiespender: Mit trockenen Böden kommt der Sanddorn zurecht, trotzdem gehen die Ernten in Mecklenburg zurück. © picture alliance / Andreas Franke
Von Silke Hasselmann · 04.10.2019
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In der DDR waren die vitaminreichen Beeren des Sanddorn ein Ersatz für Südfrüchte. Damals gegründete Plantagen betreiben jetzt Öko-Landbau. Doch viele Bauern in Mecklenburg sind in Sorge: Eine unbekannte Krankheit rafft die Pflanzen dahin.
In der Nähe der Bundesstraße zwischen Schwerin und Ludwigslust. Zwei Männer unterwegs auf einer der Sanddorn-Plantagen. Beim Anblick der in Reih und Glied gepflanzten Sträucher meint der eine: "Das ist natürlich immer typisch, so geht das los, ne: In dem Ast hier ist im Grunde genommen schon überhaupt kein Leben mehr."
"Trotzdem müssen wir das mit Humor nehmen. Weil: Ändern können wir das im Moment nicht, ne", erwidert der andere, und es wird klar: Beiden ist nicht nach Lachen zumute. Weder Dr. Joachim Viethinghoff vom staatlichen Pflanzenschutzdienst Mecklenburg-Vorpommerns noch Bio-Landwirt Frank Späthe. Der ist Co-Geschäftsführer der "Storchennest GmbH Ludwigslust", die hier in der Gegend knapp 400 Hektar Acker bewirtschaftet, davon 117 Hektar allein mit Sanddorn. Das Problem: Viele Beerensträucher kränkeln. Und sterben.

Zwei Missernten in Folge: schon 2018 fehlte der halbe Ertrag

Wie jedes Jahr startete die "Storchennest GmbH Ludwigslust" am 1. September ihre abschließende Sanddorn-Ernte. Doch statt der üblichen sechs Wochen holten die Mitarbeiter gerade mal zwei Wochen lang die vitaminreichen Beeren von den Sträuchern. Dann brachen sie die Ernte ab. Schon 2018 konnte von den bis dahin erreichten Erträgen um die 70 Tonnen pro Jahr keine Rede sein: Gerade mal halb soviel kam herein. Der Frost während der Befruchtungsphase spielte eine Rolle. Doch mehr noch das rätselhafte Sterben vieler Sanddorn-Pflanzen. Dieses Jahr kam es noch schlimmer.
"Eigentlich fahre ich vor der Ernte immer in die Plantagen und gucke: Wo hängt wie viel, wo können wir ernten und wo nicht?", sagt der gelernte Gartenbauingenieur Frank Späthe. "Dieses Jahr habe ich das ziemlich weit verdrängt. Hatte irgendwie nicht so richtig Lust, mir das anzugucken." Denn Späthe, der sich seit 18 Jahren intensiv mit der orange-gelben Beerenfrucht beschäftigt, sieht früchtetragende neben kranken Büschen oder abgestorbenen Pflanzen, und das auf mittlerweile 50 Hektar. Das sind 40 Prozent der gesamten Sanddorn-Anbaufläche. Was bisher niemand sieht, ist eine Ursache oder doch wenigstens ein Muster, nach dem die Sträucher befallen werden.

Das Krankheitsbild gibt Pflanzenkennern Rätsel auf

"Das kommt vor in alten Plantagen und es kommt vor in neu gepflanzten", sagt Späthe. "Es kommt in gepflegten und in ungepflegteren, auf trockeneren Standorten, auf feuchteren Standorten vor, bei männlichen, bei weiblichen Pflanzen. Also, es ist nicht so, dass man sagen kann: nur junge Pflanzen oder nur alte Pflanzen oder nur auf trockenen Standorten. Wir können da keine Analogieschlüsse ziehen."
Hätten Mäuse den Schaden angerichtet oder die vor einigen Jahren erstmals aufgetretene Sanddornfliege oder bislang bekannte Pilzkulturen - das Areal sähe anders aus, sagt der Phytopathologe Joachim Vietinghoff Der Experte für Pflanzenkrankheiten im Rostocker Landesamt für Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit und Fischerei erläutert:
"Wenn wir es mit einem pilzlichen Erreger zu tun hätten, der würde sich mit dem Wind oder mit Regentropfen ausbreiten, und es würde ein Areal von irgendwo ausgehend erkennbar werden. Hier ist aber noch das blühende Leben neben halbtoten Sträuchern zu sehen. Oder ganze Reihen sind bis zur Mitte betroffen, und dann sind die restlichen Pflanzen gesund. Also, das entspricht ja auch keinen Erfahrungen."

Ein Pilz blockiert die Nährstoff-Zufuhr

Auch die Tatsache, dass dieser Sanddorn als Vitaminquelle auf Plantagen bewirtschaftet werde, ergebe keinen Hinweis für die Todesursache. "Denn wir haben es in Wildbeständen genauso", sagt Vietinghoff. Schon mehrmals haben er und seine Kollegen auf Sanddorn-Plantagen Triebe und sogar ganze Äste abgeschnitten - möglichst bis kurz über der Erde. Verstaut in Plastiktüten und akkurat beschriftet landen sie als Proben im Labor.
Die bisherigen Untersuchungen förderten einen Pilz zutage, der die Gefäße des Sanddorns hinaufwandert und dabei derart verstopft, dass die Pflanze irgendwann weder Nährstoffe noch Wasser aufnehmen kann und verdorrt. Doch laut Joachim Vietinghoff handelt es sich bei diesem Pilz um einen Schwächeparasiten, der - so sagt es schon der Name - nur bereits geschwächte Pflanzen angreife.
Dass der Pilz auch gesunde Sanddorn-Sträucher befällt und dann zum Absterben bringt, könne er sich nicht vorstellen, so Vietinghoff. Man müsse sich noch vertiefter mit dem rätselhaften Sanddorn-Sterben befassen, erklärte der derzeit stark gefragte Fachmann kürzlich auch im NDR-Regionalfernsehen. Doch die technischen Mittel und personellen Kapazitäten der Abteilung Pflanzenschutzdienst beim Landesamt für Landwirtschaft seien begrenzt.

Ursachenforschung im Labor

"Wir sind zwar diagnostisch gut drauf" sagt Joachim Vietinghoff. "Aber die Frage ist, ob wir nach dem Richtigen suchen - ob wir überhaupt im richtigen Bereich suchen. Das weiß man ja alles nicht, wenn man es mit einer unbekannten Schadursache zu tun hat. Aber jetzt sind wir mit unserem Latein auch irgendwo am Ende, und jetzt ist die Wissenschaft gefragt."
Zumal es der sogenannten "Zitrone des Nordens" nicht nur auf den Plantagen rund um Ludwigslust an den Kragen geht, sondern auch in anderen Standorten im Nordosten bis hin zur Ostsee-Halbinsel Darß. Das Bundesforschungsinstitut "Julius Kühn" für Kulturpflanzen will nun einige Proben unter die Lupe nehmen, die unter anderem von einem Marlower Familienagrarbetrieb im Landkreis Vorpommern-Rügen eingesendet wurden.
Auf Forst Schneebecke sind Erntehelfer bei der Sanddornernte. Seit etwa zwanzig Jahren wird auf Gut Schneebecke die "Zitrone des Nordens" angebaut. In den Handel kommt die Vitamin-C-reiche Frucht meist als Saft oder Fruchtmus. 
Vitaminreiche Ernte: Aus den orangen Beeren werden Säfte, Tees, Likör und Weine hergestellt.© picture alliance / dpa / Bernd Wüstneck
Dort laufe die Sanddorn-Ernte zwar noch, werde aber auch eine erheblich schwächere Ausbeute als in den Vorjahren erbringen - und damit einen Verlust von mindestens 40.000 Euro, heißt es aus der Betriebsleitung. Auch hierfür sei nicht die einzige Ursache, aber die größte: das mysteriöse Sanddornsterben, das dort bereits seit vier Jahren beobachtet werde. Tendenz steigend. Ähnliche Berichte kommen aus Brandenburg, Schleswig-Holstein und sogar aus China.
Zurück zum größten und ältesten deutschen Sanddorn-Anbaubetrieb nach Ludwigslust. "Ich habe ja den Ursprung des Sanddorns hier in Ludwigslust schon miterlebt", sagt Silvia Hinrichs, die Co-Geschäftsführerin der "Storchennest GmbH". Hinrichs kam vor 45 Jahren zu dem Betrieb, als der noch eine volkseigene Obstbau-Produktionsgenossenschaft war. "Die Verbindung 'Sanddorn' und 'Storchennest' ist eigentlich immer unser Aushängeschild gewesen", sagt sie.

Vitamine für die DDR-Bevölkerung

Auf der Suche nach Vitaminquellen für die DDR-Bevölkerung jenseits teurer Südfrüchte-Importe hatten Agrarwissenschaftler und Biologen der Berliner Humboldt-Universität den heimischen, genügsamen Sanddorn entdeckt. Was 1980 in Ludwigslust mit drei Hektar großen Versuchsfeldern begann, entwickelte die 1992 ausgegründete "Storchennest GmbH" bis heute zu knapp 120 Hektar umfassenden Sanddorn-Plantagen.
Doch nun können die Ludwigsluster zum zweiten Mal hintereinander nicht alle ihre Vertragspartner mit ausreichend Sanddornbeeren beliefern. Erstmalig müssen sie sogar für die eigene Saftverarbeitung zukaufen. Wo ansetzen, wenn niemand weiß, warum der Sanddorn eingeht? Silvia Hinrichs, eine schlanke Frau mit kurzgeschnittenen weiß-grauen Haaren, schaut ratlos auf den rätselhaften Mix aus gesunden und verdorrten Pflanzen und sagt:
"Erschreckend ist eigentlich, dass es so rasant geht. Es gibt Plantagen, die abgestorben sind, die haben wir voriges Jahr noch beerntet. Das waren sie noch belaubt und haben noch Früchte getragen. Das ist es, was mich daran so erschreckt: dass es innerhalb von kurzer Zeit 50 Hektar hinrafft. Das macht einem schon Angst."

EU-Subventionen für den Sanddornanbau stehen in Frage

Immerhin macht der Sanddorn ein Drittel der gesamten GmbH-Erträge aus, und es steht zu befürchten, dass Brüssel einen großen Teil der EU-Subventionen für die jüngeren Plantagen zurückfordert. Die Förderung wurde unter der Bedingung gewährt, dass auf den bezuschussten Flächen mindestens fünf Jahre lang Bio-Sanddorn angebaut wird. Doch das ist auf den befallenen Flächen vorerst nicht mehr zu gewährleisten. Das Schweriner Landwirtschaftsministerium prüft, wie sich eine existenzbedrohende Rückforderung vermeiden ließe.
Fest steht: Die am schlimmsten befallenen Plantagenbereiche werden jetzt gerodet. "Wir werden auf alle Fälle versuchen Sanddorn in Ludwiglust zu halten", sagt Silvia Hinrichs. "Wir werden sicher in der Perspektive nicht mehr die größten Anbauer sein. Aber wir werden die ältesten Anbauer von Sanddorn bleiben. Und da werden wir die Standorte, die wir um Ludwigslust haben - wir sind ja Öko-Landwirte - einzeln durchprobieren und werden gucken, wo Sanddorn noch wächst."
Parallel dazu bauen die Ludwigsluster mit Unterstützung des Schweriner Landwirtschaftsministeriums inzwischen auch andere Wildfrüchte wie Hagebutte und Quitte an. Doch vor allem hoffen sie, dass die Ursache für das Sanddorn-Sterben bald gefunden wird, auf dass der wunderbare Beerenstrauch dem Norden als heimische Kulturpflanze erhalten bleibt und die Zukunft ihres Betriebes weiterhin gelb-orange leuchtet.
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