Rätselhafte Geschichten von einem rätselhaften Autor

Rezensiert von Katharina Döbler · 23.10.2006
16 Jahre nach seinem Selbstmord kommt mit "Das Gewitter" ein neuer Erzählband von Romain Gary auf den Markt. Frühe Erzählungen, geprägt vom Geist eines kämpferischen Humanismus, sind ebenso in dem Band vertreten wie Prosa aus den 70er Jahren, in denen der Zeitgeist der "engagierten Literatur" zum Ausdruck kommt.
Romain Gary war ein Autor mit vielen Identitäten, der sich – durchaus mit Erfolg – in verschiedenen Welten zu bewegen wusste: Geboren 1914 als Roman Kacew in Wilna, kam er mit seiner Mutter, einer jüdischen Schauspielerin, nach Frankreich.

Er war Kampfflieger im Spanischen Bürgerkrieg und im Zweiten Weltkrieg, Schriftsteller und Diplomat; er arbeitete in Hollywood, engagierte sich – zusammen mit seiner zweiten Ehefrau, der Schauspielerin Jean Seberg - in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, schrieb auf Englisch Stücke und Drehbücher. Er war Mitglied der Ehrenlegion und der einzige Autor, der je den Prix Goncourt zweimal erhielt: einmal für seinen Roman "Die Wurzeln des Himmels" und zum zweiten Mal für das unter dem Pseudonym Emile Ajar erschienene Buch "Du hast das Leben noch vor dir". Erst nach Romain Garys Selbstmord im Dezember 1980 wurde bekannt, wer dieser Ajar tatsächlich war.

Romain Gary alias Roman Kacew alias Emile Ajar war, bei aller Berühmtheit, in mancherlei Hinsicht ein Rätsel. In der ersten Erzählung dieses Buches, die ausgerechnet "Außer Atem" heißt – wie der Nouvelle-Vague-Film, mit dem Jean Seberg bekannt wurde -, inszeniert ein rätselhafter Ich-Erzähler seinen eigenen Selbstmord, indem er einen Auftragskiller anheuert. Warum er das tut, bleibt ebenso rätselhaft wie die Figur selbst, die anscheinend durch mehrere chirurgische Eingriffe ihr Gesicht mehrfach hat verändern lassen. Entstanden ist diese Erzählung 1970, ebenso wie das lange Fragment mit dem Titel "Der Grieche", in dem es um einen amerikanischen Hippie im Griechenland unter der Obristen-Diktatur geht. Der Zeitgeist der so genannten "engagierten Literatur" ist in diesen beiden Texten deutlich präsent – aber dieses Engagement zeigt sich gebrochen durch Lebenserfahrung und eine prinzipielle Skepsis, die an offenen Zynismus grenzt.

Im Vergleich zu den anderen, frühen Erzählungen, die aus den 30er und 40er Jahren stammen, besitzen sie sehr viel mehr Ausdruckskraft, Genauigkeit der Beobachtung und Vielschichtigkeit – und sehr viel weniger Nachsicht mit ihren Figuren. Das Pathos des überzeugten Kämpfers für das Gute haben sie ganz verloren, ebenso wie den Hang zum Melodramatischen.

Die allererste Erzählung, die Gary mit 21 Jahren veröffentlichte, "Das Gewitter" ist tatsächlich pures Melodram, und deutlich von Joseph Conrad beeinflusst. Unter dem Eindruck des Krieges sieht man diese Prosa sich jedoch zu größerer Knappheit und Schärfe entwickeln. Und sie ist durchdrungen vom Geist eines kämpferischen Humanismus, der auch den Roman "Die Wurzeln des Himmels" inspirierte. Dass Gary diese Haltung später zunehmend hinterfragte, zeigt sich unter anderem darin, dass er seinen Ich-Erzähler in "Außer Atem" als einen Verbrecher im Dienst des Guten darstellt, der sich seiner Sünden bitter bewusst ist, auch wenn er sie nicht bereut.

Romain Gary hat stets für traditionelle, prämoderne Erzählweisen plädiert, und die hier versammelten Geschichten zeigen wieder den Saft- und Kraftkerl der Literatur, der er einmal war; aber sie zeigen auch einen Autor, bei dem Schmerz und Moral untrennbar zum Schreiben gehörten.

Romain Gary: Das Gewitter
Erzählungen
Aus dem Französischen und Englischen von Carina von Enzenberg und Giò Waeckerlin Induni
Verlag SchirmerGraf 2006
208 Seiten, 17.80 Euro