Rätsel der Eltern
Die eigenen Eltern begreift man nie. Deshalb wird das Rätsel der eigenen Kindheit niemals zu lösen sein. Aber es ist ein faszinierendes Rätsel, das den Weg zur Selbsterkenntnis weist - und das ein wesentlicher Impuls der Herstellung von Literatur ist.
Das bekannte und etwas zynische Diktum, dass eine unkompliziert glückliche Kindheit keine gute Voraussetzung für das Entstehen guter Literatur sei, ist nur einer der vielen Hinweise darauf. Und derartige Hinweise gibt es unendlich viele.
Der isländische Schriftsteller Gudbergur Bergsson legt sein neuestes Buch, das weniger eine Autobiografie ist als eine Sammlung von Familienporträts, auf diese Rätselhaftigkeit hin an. Das einzige, was sich vom Leben eines Menschen - gemeint sind die Eltern - festhalten lasse, schreibt er, "sei der Wunsch, einen geistigen Hauch von ihm in Worten aufzubewahren".
Und es sind mehr Impressionen als Erzählungen, mehr Erinnerungsfragmente als Geschichten, die er mitteilt und reflektiert: Der Vater als alter Mann im Altersheim, der Vater als Handwerker, der seinen Beruf als Kunst verstand, der Vater, der mit seinen eigenen Händen, unter Zuhilfenahme nur von Werkzeug, das er wie kultisches Gerät hütete und pflegte, ein Haus baute, der Vater als Spötter, der Vater als Versorger, der Vater als Tagelöhner, der Vater als Fischer, der Vater unzugänglich, fürsorglich, höhnisch, unerreichbar.
Auf diese Weise verfährt er auch mit den anderen Gestalten einer isländischen Kindheit: Die Großmutter, deren ganze Leidenschaft auf feine Handarbeiten gerichtet war und die sich um ihre Kinder kaum kümmerte, dafür aber umso mehr in die Welt setzte. Der Großvater, der aus vielleicht begründeter Eifersucht Frau und Kinder eines Tages vor die Tür setzte. Sie alle werden in kleinen Szenen, in ihrem Reden und ihren Gesten kurze Zeit gegenwärtig - aber sie erreichen niemals die Schlüssigkeit fiktiver Romanfiguren. Sie bleiben für den inzwischen schon alt gewordenen Autor und dessen Leser das, was sie auch für Kinder sind: Übergroße Rätsel, deren Motivationen und Wünsche verborgen bleiben. Da ist auch die Mutter keine Ausnahme, die viel Leid mit sich herumträgt, und die dennoch, in einer Umgebung von äußerster Kargheit und Armut, ein sehr aufrechtes Leben führt.
Die Magie, die von diesem Buch ausgeht, hat außer mit Menschen auch viel mit Dingen zu tun: In der Welt eines isländischen Fischerdorfs der dreißiger Jahre gab es nicht viele Dinge. Die Anschaffung eines Kohleherdes war ein Meilenstein, Holzleisten aus Sägeabfällen ein ganz besonderes, beneidetes und einzigartiges Spielzeug. An diesen Leisten beispielsweise macht Bergsson eine ganze Kunsttheorie fest, an deren Beispiel analysiert er die Hierarchie der Kinder untereinander mit ausgefeilter Dialektik.
"Zauber der Kindheit" ist eine ziemlich abgenutzte Redewendung mit süßlichem Beigeschmack. Und den besitzt dieses Buch ganz gewiss nicht. Es geht darin sehr wohl um die Magie, die Kinder in ihrer Welt wahrnehmen als Begründung für all die unverständlichen Dinge, die Erwachsene tun und behaupten. Doch der vorherrschende Grundton ist nüchtern wie alte Schwarz-Weißfotografien, durchzogen von einer zärtlichen Nachdenklichkeit, die stets darüber grübelt, wer sie nun eigentlich wirklich waren - die Eltern und Großeltern.
Gudbergur Bergsson: Vater, Mutter und der Zauber der Kindheit
Roman. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig.
Steidl, Göttingen 2005
444 S., 22 €
Der isländische Schriftsteller Gudbergur Bergsson legt sein neuestes Buch, das weniger eine Autobiografie ist als eine Sammlung von Familienporträts, auf diese Rätselhaftigkeit hin an. Das einzige, was sich vom Leben eines Menschen - gemeint sind die Eltern - festhalten lasse, schreibt er, "sei der Wunsch, einen geistigen Hauch von ihm in Worten aufzubewahren".
Und es sind mehr Impressionen als Erzählungen, mehr Erinnerungsfragmente als Geschichten, die er mitteilt und reflektiert: Der Vater als alter Mann im Altersheim, der Vater als Handwerker, der seinen Beruf als Kunst verstand, der Vater, der mit seinen eigenen Händen, unter Zuhilfenahme nur von Werkzeug, das er wie kultisches Gerät hütete und pflegte, ein Haus baute, der Vater als Spötter, der Vater als Versorger, der Vater als Tagelöhner, der Vater als Fischer, der Vater unzugänglich, fürsorglich, höhnisch, unerreichbar.
Auf diese Weise verfährt er auch mit den anderen Gestalten einer isländischen Kindheit: Die Großmutter, deren ganze Leidenschaft auf feine Handarbeiten gerichtet war und die sich um ihre Kinder kaum kümmerte, dafür aber umso mehr in die Welt setzte. Der Großvater, der aus vielleicht begründeter Eifersucht Frau und Kinder eines Tages vor die Tür setzte. Sie alle werden in kleinen Szenen, in ihrem Reden und ihren Gesten kurze Zeit gegenwärtig - aber sie erreichen niemals die Schlüssigkeit fiktiver Romanfiguren. Sie bleiben für den inzwischen schon alt gewordenen Autor und dessen Leser das, was sie auch für Kinder sind: Übergroße Rätsel, deren Motivationen und Wünsche verborgen bleiben. Da ist auch die Mutter keine Ausnahme, die viel Leid mit sich herumträgt, und die dennoch, in einer Umgebung von äußerster Kargheit und Armut, ein sehr aufrechtes Leben führt.
Die Magie, die von diesem Buch ausgeht, hat außer mit Menschen auch viel mit Dingen zu tun: In der Welt eines isländischen Fischerdorfs der dreißiger Jahre gab es nicht viele Dinge. Die Anschaffung eines Kohleherdes war ein Meilenstein, Holzleisten aus Sägeabfällen ein ganz besonderes, beneidetes und einzigartiges Spielzeug. An diesen Leisten beispielsweise macht Bergsson eine ganze Kunsttheorie fest, an deren Beispiel analysiert er die Hierarchie der Kinder untereinander mit ausgefeilter Dialektik.
"Zauber der Kindheit" ist eine ziemlich abgenutzte Redewendung mit süßlichem Beigeschmack. Und den besitzt dieses Buch ganz gewiss nicht. Es geht darin sehr wohl um die Magie, die Kinder in ihrer Welt wahrnehmen als Begründung für all die unverständlichen Dinge, die Erwachsene tun und behaupten. Doch der vorherrschende Grundton ist nüchtern wie alte Schwarz-Weißfotografien, durchzogen von einer zärtlichen Nachdenklichkeit, die stets darüber grübelt, wer sie nun eigentlich wirklich waren - die Eltern und Großeltern.
Gudbergur Bergsson: Vater, Mutter und der Zauber der Kindheit
Roman. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig.
Steidl, Göttingen 2005
444 S., 22 €