Radio nicht nur auf Deutsch

    „Ohne Sprache fühlt sich eine Person schwach“

    Hiba Obaid und Lorin Celebi, Autorinnen von "Nora - Mein Tagebuch in Berlin", ein Projekt innerhalb des Podcasts "Voice Versa - Zwei Sprachen, eine Story".
    Warum interessiert so viele Menschen nur der Krieg in Syrien, aber nicht, was es bedeutet, sich ein Leben in einer anderen Sprache einzurichten? Das fragen sich Hiba Obaid (links) und Lorin Celebi. © privat
    Hiba Obaid und Lorin Celebi im Gespräch mit Sarah Murrenhoff · 13.04.2021
    Wie fühlt es sich an, als junge Frau aus einem arabischen Land in Berlin zu leben? Im Podcast „Voice Versa – Zwei Sprachen, eine Story“ erzählen Hiba Obaid und Lorin Celebi die verworrenen Geschichten, die sich manchmal hinter den einfachsten Alltagssituationen verbergen. Auf Deutsch und Arabisch, denn: Deutschland ist vielsprachig.
    Deutschlandfunk Kultur: Hiba Obaid und Lorin Celebi, Sie erzählen innerhalb des Podcasts "Voice Versa – Zwei Sprachen, eine Story" die Geschichte von Nora. Wer ist Nora?
    Hiba Obaid: Nora ist eine 30-jährige Frau. Sie kommt aus Aleppo in Syrien, wohnt seit nicht allzu langer Zeit in Berlin und sucht dort ihren Weg – mit all den Schwierigkeiten und Erlebnissen, die der Alltag für sie so bereithält.
    Lorin Celebi: Man muss dazusagen: Nora ist eine fiktive Figur, die wir zusammen entwickelt haben. Wir begleiten sie ein Jahr lang in Berlin.
    Deutschlandfunk Kultur: Sie haben eine Kunstfigur geschaffen, die Ihrer eigenen Lebensrealität sehr ähnelt. Ist es einfacher, von Nora zu erzählen als von Hiba und Lorin?
    Lorin Celebi: Ja, auf jeden Fall. Wir haben unsere Erlebnisse in eine fiktive Figur eingewoben, damit wir nicht direkt über uns sprechen müssen.
    Hiba Obaid: Und wir erzählen auch nicht nur unsere eigenen Erfahrungen. Natürlich kennen wir aus arabischen Communitys in Berlin die unterschiedlichsten Geschichten und Erfahrungen. All diese Geschichten fließen ein. Aber es ist Nora, die das erlebt. Es ist Nora, die über Sex, über Religion, über Drogen, über Gesellschaft spricht – die deutsche oder die arabische. Die Figur Nora spricht über ihre Erfahrungen. Nicht Hiba oder Lorin.
    Lorin Celebi: Sie hat sozusagen eine kollektive Identität – zusammengesetzt aus der von vielen Frauen aus dem Nahen Osten.
    Deutschlandfunk Kultur: Alle zwei Wochen erscheint eine Podcast-Folge von "Voice Versa". In den ersten sechs Folgen tauchen wir fünf Minuten lang in Noras Leben ein. "Mein Tagebuch in Berlin" heißt Ihr Projekt. Sind es Noras intimste Gedanken, die wir von ihr hören?
    Hiba Obaid: Es sind Noras ungefilterte Gedanken in Alltagssituationen. Während sie die Straße entlangläuft, U-Bahn fährt, abends im Bett liegt oder in einem Club ist. Jedes Erlebnis löst eine Kette an Assoziationen und Gedanken aus. Sie erzählt Alltagsgeschichten wie in einem Tagebuch. Und sie erzählt sie im Prinzip sich selbst.
    Lorin Celebi: Wir wollen keine komplizierten Debatten ausbreiten, sondern von ganz einfachen Situationen erzählen.
    Hiba Obaid: Aber manchmal verbergen sich hinter den einfachsten Situationen und Fragen viele Geschichten. Geschichten, die man von außen nicht sieht. Wenn Nora zum Beispiel in einer Bäckerei steht und ein Franzbrötchen bestellen möchte, aber nicht weiß, dass es "Franzbrötchen" heißt. Das löst dann eine Kette von Gedanken aus, weil man plötzlich wie paralysiert dasteht und denkt: Wie unterscheiden sich deutsche Bäckereien von denen in meiner Heimat? Warum stehe ich überhaupt hier und bestelle ein Franzbrötchen so wie die anderen Menschen, die das täglich auf dem Weg zur Arbeit essen? Und warum empfinde ich diese Situation gerade als stressig?
    Deutschlandfunk Kultur: Sie erzählen Noras Geschichten sowohl auf Arabisch als auch auf Deutsch. Das ist die Besonderheit des mehrsprachigen Podcasts "Voice Versa". Alle Geschichten werden auf mehreren Sprachen erzählt, weil das Leben in Deutschland vielsprachig ist. Wen stellen Sie sich beim Erzählen vor? Eher eine Zuhörerschaft, die Deutsch oder die Arabisch versteht? Oder beides?
    Lorin Celebi: Ich schreibe auf Deutsch und stelle mir Deutsch sprechende Menschen vor. Hiba konzentriert sich auf Menschen, die ausschließlich Arabisch sprechen – oder Arabisch und ein bisschen Deutsch. Wir haben das absichtlich so aufgeteilt, damit jede von uns die entsprechende Zielgruppe im Auge hat. Wir schreiben bewusst nicht gemeinsam. Was wir aber gemeinsam machen, ist, dass wir am Ende beide Versionen miteinander mischen.
    "Voice Versa - Zwei Sprachen, eine Story", ein Podcast von Deutschlandfunk Kultur.
    In "Voice Versa - Zwei Sprachen, eine Story" werden Geschichten nicht nur auf Deutsch erzählt.© Deutschlandradio
    Deutschlandfunk Kultur: Und die Mischung ist sehr interessant. Teilweise wiederholen Sie Aspekte, die auf Arabisch oder auf Deutsch bereits gesagt wurden, teilweise bekommt die Geschichte andere Aspekte in der anderen Sprache.
    Hiba Obaid: Ja. Uns war von Anfang an klar: Wir möchten Menschen, die beide Sprachen sprechen, nicht langweilen. Aber die arabische und die deutsche Version sind anders, weil wir es jeweils anderen Gruppen erzählen.
    Lorin Celebi: Die größte Herausforderung ist, für die Menschen zu schreiben, die beide Sprachen verstehen.
    Hiba Obaid: Manchmal halten wir etwas auch für eine super Idee und merken dann: Das funktioniert aber nur auf Arabisch, auf Deutsch klingt es total albern.
    Deutschlandfunk Kultur: Zum Beispiel?
    Lorin Celebi: (lacht) Das kann man schwer beschreiben. Wenn sich Nora zum Beispiel an ihre Heimatstadt erinnert, nennt sie kleine Details, in der ersten Folge ist das zum Beispiel "der Duft der Stadt". Wie die Stadt riecht. Auf Arabisch ist das ein sehr bekannter Begriff. Dass man in einer Stadt ankommt und sagt "es riecht nach meiner Stadt" oder "es riecht nach Heimat". Hier gibt es diesen Ausdruck nicht. Hiba hatte zum Beispiel eine ganze Passage darüber, aber auf Deutsch ergibt das keinen Sinn. Natürlich kann man vom "Geruch der Stadt" sprechen, aber es transportiert keinen zusätzlichen Sinn dahinter.
    Deutschlandfunk Kultur: Hat Nora eine andere Persönlichkeit, wenn sie auf Deutsch erzählt, als wenn sie auf Arabisch erzählt?
    Hiba Obaid: Das ist, denke ich, nicht zu vermeiden. Wenn ich auf Deutsch spreche, bin ich ganz anders als wenn ich auf Arabisch spreche. Nora kommt aus Syrien. Ihre Muttersprache ist Arabisch. Ihr Arabisch ist eloquenter, sie kann ausschweifend erzählen, auf Deutsch konzentriert sie sich mehr auf ihre Gefühle. Sie erzählt mit einfacherer Sprache, nicht so kompliziert.
    Deutschlandfunk Kultur: Welche Bedeutung hat Sprache für Noras Identität?
    Hiba Obaid: Sprache ist enorm wichtig. In der Bäckerei oder wenn der Kontrolleur in der U-Bahn die Fahrscheine sehen will und Nora auf Deutsch nicht die Kraft aufbringt, um mit ihm zu diskutieren. Für Noras Persönlichkeit spielt Kraft eine große Rolle. Wenn man der Sprache mächtig ist, fühlt man sich kräftiger und stärker. Aber ohne Sprache fühlt man sich schwach. Kraftlos.
    Lorin Celebi: Wer den Podcast hört, wird eines merken: Ohne Sprache kann man sich nicht verteidigen. In ganz normalen, einfachen Situationen ist es schwierig, eine Antwort zu geben. Gleich in der ersten Folge wird das spürbar. Bei sprachlichen Problemen fühlt sich Nora schwach. Auf Arabisch ist sie viel selbstbewusster.
    Deutschlandfunk Kultur: Mit jeder Folge erfahren Hörer*innen etwas Neues über Nora. Dabei arbeiten Sie keinen Streckbrief ab, sondern es fließt immer nur die Information ein, die für die konkrete Situation relevant ist.
    Lorin Celebi: Das war uns sehr wichtig. So bauen Hörer*innen erst einmal eine gewisse Nähe zu Nora auf, bevor sie erfahren, woher sie kommt oder welche Religion sie hat. Es war uns wichtig, dass sie nicht gleich wegen ihrer Religion oder Ethnie oder Herkunft oder was auch immer in irgendeine Schublade gesteckt wird. Wir wollen diese Informationen erst nach einiger Zeit preisgeben. Dafür bieten wir gleich am Anfang die Chance, sie viel tiefer kennenzulernen: zu erfahren, wie sie ist und wie sie denkt. Dadurch wird sie vielleicht nicht von Anfang an wegen Oberflächlichkeiten verurteilt.
    Hiba Obaid: Wenn in deutschen Medien über Menschen aus arabischen Ländern gesprochen wird, sind es meist extrem positive oder extrem negative Beispiele. Deshalb wollen wir erzählen. Unsere Perspektive. Keine weiße Perspektive, die über uns spricht. Denn was fehlt, ist die Perspektive ganz normaler Personen, die ihre Schwierigkeiten haben. Die mal fröhlich sind, mal traurig sind. Über die Gefühle von Menschen mit Fluchterfahrung wird nicht viel gesprochen, jenseits von Krieg und großen gesellschaftlichen Ereignissen. Fragen des Alltags bleiben oft außen vor. Dabei ist jeder Tag eine Herausforderung, manchmal sogar jedes Gefühl. Ständig fragt man sich: Warum habe ich dies gedacht? Oder: Warum ist das passiert? Oder: Wie war das für mich, als ich noch in meiner Heimat war? In diesem Podcast haben wir die Chance, von uns zu sprechen. Vom ganz normalen Leben zu erzählen, nicht vom Krieg.
    Lorin Celebi: In der zweiten Folge ist Nora bei einem Jobinterview. Dort sagt sie, in ihrem Land war Krieg, mehr möchte sie darüber nicht sagen. Weil Syrien immer mit Krieg verbunden wird. "Erzähl mal was", heißt es immer. "Hast Du noch Kontakte? Hast Du noch Bekannte?" Aber wir sind normale Personen! Wir leben hier seit sieben Jahren. Wir sind ganz normale Menschen. Wir haben jetzt unsere eigenen Probleme in Berlin, ganz normal. Das haben wir versucht, durch Nora zu erzählen.

    Das Interview für Deutschlandfunk Kultur führte Sarah Murrenhoff.

    Zum Podcast "Voice Versa - Zwei Sprachen, eine Story"

    Zu Folge 1: Neuer Podcast: Voice Versa - Zwei Sprachen, eine Story (1/24)
    (Deutschlandfunk Kultur, Feature, 13.04.2021)
    Zu Folge 2: Neuer Podcast: Voice Versa - Zwei Sprachen, eine Story (2/24)
    (Deutschlandfunk Kultur, Feature, 13.04.2021)