Radio Jai
Neuigkeiten aus Israel und vom Nahost-Konflikt sind fester Bestandteil des Programms. Auch viele Nicht-Juden schalten ein.
Redaktionssitzung bei Radio Jai in Buenos Aires. Danny Saltzman und die anderen Mitarbeiter der Sendung Coffee Break sitzen in einem engen Kabuff mit deckenhohen CD-Regalen an den Wänden und diskutieren. Nach einer mehrmonatigen Pause soll das von Danny Saltzman moderierte Unterhaltungsmagazin in Kürze wieder auf Sendung gehen.
Wenige Wochen später, im Juni. Wer in Buenos Aires vormittags Radio Jai einschaltet oder den Sender im Internet anklickt, hoert nun wieder Coffee Break. Danny Saltzman und die Kollegen am Moderationstisch werfen sich die Bälle zu, machen Witze und reden manchmal alle durcheinander.
Eine typisch argentinische Radiosendung eben. Mit einem Unterschied: Radio Jai ist ein jüdischer Radiosender. Der einzige in Argentinien, wo mit gut 200.000 Menschen die größte jüdische Gemeinschaft in Lateinamerika lebt, und der einzige auf dem Subkontinent. Die Redaktion von Radio Jai befindet sich im Once, einem der Viertel von Buenos Aires, in denen traditionell viele Juden leben.
"Man merkt unserem Programm schon an, dass wir Argentinier sind und aus Buenos Aires senden. Unter anderem, weil wir über Kulturveranstaltungen berichten, die hier stattfinden."
Meint Moderador Danny Saltzman.
"Der größte Teil unserer Hörer lebt eben hier und interessiert sich für Theater oder Kino, das hier gezeigt wird. Nichtdestotrotz versuchen wir, ein Radioprogramm zu machen, dass auch Menschen außerhalb Argentiniens anspricht. Es gibt in der Welt viele spanischsprachige Juden, und auch nichtjüdische Hörer interessieren sich fuer unsere Weltsicht.""
Das einzige Radio, das seit Tausenden von Jahren in Mode ist – wirbt Radio Jai für sich – in Anspielung auf die Jahrtausende alte jüdische Kultur. Das hebräische Word Jai bedeutet Leben. Miguel Steuermann, Direktor von Radio Jai, gründete den Sender vor fast 17 Jahren - im September 1992. Wenige Monate zuvor hatten bei einem bis heute nicht aufgeklärten Attentat auf die Israelische Botschaft in Buenos Aires 29 Menschen ihr Leben verloren.
"Ich glaube, Radio Jai war eine unbewusste Antwort auf diesen Terroranschlag. Der erste jüdische Radiosender in der spanischsprachigen Welt, der erste auf dem Kontinent. Es gab zwar in verschiedenen Ländern jüdische Radioprogramme, aber keinen Sender wie unseren, der 24 Stunden am Tag on air ist. Als wir Radio Jai ins Leben riefen, bekamen wir keinerlei finanzielle Unterstützung, genauso wenig wie heute. Es ist eine Geschichte großer Leidenschaft, großen Einsatzes und großer Schwierigkeiten, ein Medium fast ohne Finanzmittel am Leben zu erhalten."
Miguel Steuermann ist 44 Jahre alt – ein humorvoller Chilene. Sein Vater wurde in Wien geboren, seine Mutter in Berlin. Steuermann, der vor 21 Jahren von Santiago de Chile nach Buenos Aires zog, trägt einen kurzen Bart und auf dem Kopf eine Kipa. Gefragt danach, was aus Radio Jai einen jüdischen Sender mache, denkt er kurz nach, sagt dann:
"Für uns war immer klar, dass bestimmte Themen im Programm von Radio Jai präsent sein müssen. Es gibt Werte, die für die jüdische Identität sehr wichtig sind: Die Freiheit, und der Respekt für Individualität und Unterschiede zwischen den Menschen. Auch Themen wie Diskriminierung, Antisemitismus und die besondere Beziehung der Juden zu Israel kommen ständig im Programm vor."
Im Nachrichten-Panorama, das Radio Jai einmal stündlich ausstrahlt, informiert Moderatorin Silvana Sapov über Reaktionen auf einen antisemitischen Vorfall in Buenos Aires. Der gewalttätige Angriff auf Teilnehmer einer offiziellen Feier zum 61. Jahrestag der Gründung Israels hatte auch in anderen argentinischen Medien großen Widerhall gefunden.
Neuigkeiten aus Israel und vom Nahost-Konflikt sind fester Bestandteil eines jeden Nachrichten-Panoramas, und auch der täglichen politischen Sendung von Radio Jai: Pensando las Noticias, auf Deutsch Nachdenken über Nachrichten.
"Wir wollen die Leute nicht mit Informationen übersättigen und verwirren. Sondern die nach unseren Maßstäben wichtigsten Themen auswählen und vertiefen."
Erläutert Moderator Shaul Hochberger bei einem Café con Leche, einem Milchkaffee, das Konzept der Sendung. Pensando las Noticias berichtet zwar vom argentinischen Wahlkampf, aber auch etwa über die Bemuehungen von US-Praesident Obama um eine Friedenslösung im Nahen Osten oder die Koalitionsverhandlungen in Israel. Die beiden letzteren sind Themen, über die argentinische Radiohörer und Fernsehzuschauer in der Regel wenig erfahren, weil die elektronischen Medien wenig Platz für Internationales einräumen.
Radio Jai hat über die Jahre stetig an Hörern gewonnen. Heute schalten den Sender rund 90.000 Menschen ein, 35 bis 40 Prozent davon – schätzt Direktor Miguel Steuermann – sind keine Juden. Radio Jai ist unabhängig und an keine Institution gebunden, wie Moderator Shaul Hochberger betont:
"Man hat uns schon für ein Sprachrohr des Mossad gehalten, oder der AMIA, der jüdischen Wohlfahrtsorganisation in Argentinien. Aber das sind wir nicht. Wir wollen unsere Sichtweise der Dinge vermitteln, so dass etwa jemand, der eine Zeitung liest, in der Israel verteufelt wird, auch die andere Seite der Medaille sieht. Und sich dann ein Urteil bilden kann, ohne für eine eine der beiden Seiten Partei zu ergreifen. Ich glaube, dies ist eine der Funktionen von Radio Jai."
Nicht nur ein anderer Blick auf die Aktualität, sondern auch ein Musikprogramm, das anders als der Mainstream klingt, zeichnet Radio Jai aus. Dazu gehören Klezmer – wie hier von der deutschen Gruppe Aufwind – Pop, Soul und Hiphop aus Israel oder jiddischer Tango. Danny Saltzman, Moderator des Unterhaltungsmagazins Coffee Break:
"Bei uns läuft Musik, die in keinem anderen Radio zu hören ist. Eine Menge von Leuten hört Radio Jai nur wegen der Musik. Manche bleiben an unserem Sender hängen, weil die Musik sie neugierig macht."
Auch für Danny Saltzman ist es eine tägliche Herausforderung, sich inhaltlich abzuheben vom Angebot anderer argentinischer Radiosender.
"Ein Unterschied ist, dass, wenn ein Fest aus dem jüdischen Kalender bevorsteht, wir uns damit beschäftigen. Wir bemühen uns darum, dass die Leute es kennenlernen und verstehen, worum es geht."
Saltzman stellt klar, dass auch immer mehr jüdische Hörer Aufklärungsbedarf hätten. Denn eine zunehmende Zahl von ihnen habe keine jüdischen Schulen besucht – oft aus finanziellen Gründen – und immer seltener werde religiöses Wissen von Generation zu Generation in den Familien weitergegeben.
"Wir nehmen also manchmal die Position des Lehrers, des Vaters oder Großvaters ein, wenn wir die Leute an einen bestimmten Feiertag erinnern, oder daran, dass der Moment gekommen ist, die Schabbat-Kerzen anzuzuenden. Nehmen wir zum Beispiel das Pessach-Fest. Statt den Hörern zu sagen, was genau sie an den Feiertagen zu essen und zu sagen haben, koennen wir auch ueber die Freiheit sprechen, um die es bei diesem Fest geht. Wir können dazu einen Rabbiner befragen, aber genauso gut eine Person, die die Rechte von Häftlingen verteidigt.
Oder jemanden, der sich für Einwanderer einsetzt, die Sklavenarbeit verrichten. Um zu verstehen, dass es bei Sklaverei nicht nur um die Juden in Ägypten geht, oder die Schwarzen in den USA vor 200 Jahren, sondern auch um Dinge, die heute vor unserer Haustuer passieren."
"Ich fände es wunderbar, wenn dieser Radiosender, über Witze und lustige Musik und Alltagsthemen hinaus, dazu beitragen könnte, dass eine Tausende von Jahren alte Kultur über die Grenzen unserer Gemeinschaft hinaus bekannt wird. Damit andere sie verstehen. Der Antisemitismus basiert doch größtenteils auf Unwissen. Wenn ich erreichen kann, dass man mich kennenlernt, wenn ich erzählen kann, was ich tue, warum ich mir etwas auf den Kopf setze oder nicht, warum ich bestimmte Dinge esse oder nicht, warum ich mich auf diese Weise anziehe oder auf eine andere, kann ich vielleicht die Mauer einreißen, die mich vom anderen trennt."
Ein Gespraech im Redaktionsflur. Miguel Steuermann, Direktor von Radio Jai, erfährt von einem Mitarbeiter, dass wieder einmal antisemitische Schmierereien auf einem jüdischen Friedhof in Buenos Aires entdeckt wurden. Antisemitische Äußerungen und Einstellungen sind auch in Argentinien traurige Realität. Ähnlich wie in Deutschland und anderen Ländern nahmen dort Anfeindungen gegen Juden zu, als Ende vergangenen Jahres Israels Offensive im Gaza-Streifen begann. Auch in Argentinien werden jüdische Bürger für das Vorgehen Israels im Nahost-Konflikt verantwortlich gemacht. Hinzu kommen das Unwissen und die tief verwurzelten Vorurteile, gegen die Danny Saltzman und die anderen Journalisten von Radio Jai anzugehen versuchen.
"Etwa, wenn wir in unseren Sendungen über Probleme diskutieren, die unsere Gemeinschaft betreffen. Ein Beispiel: in unserem Gebäude befindet sich eine Suppenküche für Arme. Ich bin überzeugt: Die meisten Argentinier glauben, dass die Juden viel Geld haben. Sie ahnen nicht, dass es jüdische Menschen gibt, die jeden Tag wegen eines warmen Essens hierher kommen. Wenn wir also auf Radio Jai erzählen, dass wir Essen oder Matratzen für die Armen suchen, dass also auch Menschen aus der jüdischen Gemeinschaft unter der Krise leiden, merken die Leute vielleicht, dass wir alle in derselben Welt leben. Und verlieren dieses Vorurteil, dass es den Juden gut geht, wenn es den Argentiniern schlecht geht."
"Ich bin auch Hörer von Radio Jai, selbstverständlich. Ich habe meine Radios so eingestellt, ein Radio ist immer auf Radio Jai, und das andere ist für klassische Musik."
Sagt Manfred Lewin, seit vielen Jahren Mitarbeiter des Radiosenders.
""Ich schätze die Vielfalt: sephardisches Judentum, aschkenasisches Judentum, argentinisches Judentum. Israel, die jiddische Sprache, die Vielseitigkeit - alles, was Radio Jai ausstrahlt. Die Interviews, die Nachrichten aus Israel, also ich glaube, es ist ein Radio, das sehr, sehr vollständig eine ganze Palette erfasst, und deswegen sehr interessant ist."
Manfred Lewin ist 83 Jahre alt und gebürtiger Berliner. Er ist einer der vielen Emigranten, die nach der Vertreibung aus dem nationalsozialistischen Deutschland in Argentinien eine neue Heimat fanden. Auf Radio Jai moderierte Manfred Lewin, eigentlich Ingenieur, unter anderem eine Sendereihe über das deutsche Judentum.
"Es ging um alles: religiös, kulturell, politisch, wissenschaftlich, und die besondere Rolle, die das deutsche Judentum im Laufe dieser zweitausend Jahre gespielt hat. Das Wirken des Judentums aus dem deutschen Kultur- und Sprachkreis ist unendlich."
Nur einmal habe er eine negative Reaktion auf seine Sendung bekommen, erinnert sich Manfred Lewin:
"Da sagte jemand: Ach dieser Lewin immer, der ist viel zu deutsch."
Manfred Lewin bedauert, dass ein Sender, der wie Radio Jai zur Verständigung und einem besseren Kennenlernen des Judentums beitrage, mit ständigen Geldproblemen zu kämpfen habe. Es gibt keinen Mitarbeiter, der die chronische Unterfinanzierung nicht als größtes Problem von Radio Jai betrachtet. Erst vor kurzem mussten die meisten Sendungen eine mehrmonatige Pause einlegen, weil das Geld knapp wurde.
"Viele Leute aus der jüdischen Gemeinschaft glauben wohl, dass es Radio Jai gibt, weil irgendjemand dafür bezahlt. Aber es zahlt keiner. Eigentlich finanzieren wir Mitarbeiter den Sender, weil wir nichts oder wenig verdienen."
Was Coffee Break-Moderator Danny Saltzman andeutet, ist, dass keine der jüdischen Institutionen Argentiniens Radio Jai finanziell unterstützt. Den politischen und sozialen Verbänden fehle es an Weitblick, sie hätten nicht verstanden, wie nützlich ein jüdischer Radiosender sein könnte, kritisiert Shaul Hochberger, Moderator der Polit-Sendung Pensando las Noticias. Aber wahrscheinlich erlaubt gerade die finanzielle Unabhängigkeit von den argentinischen jüdischen Organisationen Radio Jai seine journalistische Unabhängigkeit.
Vor kurzem hat der Sender eine Freundesvereinigung gegründet – um Hörer dazu einzuladen, ihrem Sender unter die Arme zu greifen. Wir bräuchten dringend eine neue Sendeanlage und größere Redaktionsräume, erzählt Direktor Miguel Steuermann. Zur Zeit kann er davon nur träumen. Aber Steuermann gibt die Hoffnung auf bessere Zeiten für Radio Jai nicht auf.
"Radio Jai überlebt wie das jüdische Volk – weil es überleben muss."
Wenige Wochen später, im Juni. Wer in Buenos Aires vormittags Radio Jai einschaltet oder den Sender im Internet anklickt, hoert nun wieder Coffee Break. Danny Saltzman und die Kollegen am Moderationstisch werfen sich die Bälle zu, machen Witze und reden manchmal alle durcheinander.
Eine typisch argentinische Radiosendung eben. Mit einem Unterschied: Radio Jai ist ein jüdischer Radiosender. Der einzige in Argentinien, wo mit gut 200.000 Menschen die größte jüdische Gemeinschaft in Lateinamerika lebt, und der einzige auf dem Subkontinent. Die Redaktion von Radio Jai befindet sich im Once, einem der Viertel von Buenos Aires, in denen traditionell viele Juden leben.
"Man merkt unserem Programm schon an, dass wir Argentinier sind und aus Buenos Aires senden. Unter anderem, weil wir über Kulturveranstaltungen berichten, die hier stattfinden."
Meint Moderador Danny Saltzman.
"Der größte Teil unserer Hörer lebt eben hier und interessiert sich für Theater oder Kino, das hier gezeigt wird. Nichtdestotrotz versuchen wir, ein Radioprogramm zu machen, dass auch Menschen außerhalb Argentiniens anspricht. Es gibt in der Welt viele spanischsprachige Juden, und auch nichtjüdische Hörer interessieren sich fuer unsere Weltsicht.""
Das einzige Radio, das seit Tausenden von Jahren in Mode ist – wirbt Radio Jai für sich – in Anspielung auf die Jahrtausende alte jüdische Kultur. Das hebräische Word Jai bedeutet Leben. Miguel Steuermann, Direktor von Radio Jai, gründete den Sender vor fast 17 Jahren - im September 1992. Wenige Monate zuvor hatten bei einem bis heute nicht aufgeklärten Attentat auf die Israelische Botschaft in Buenos Aires 29 Menschen ihr Leben verloren.
"Ich glaube, Radio Jai war eine unbewusste Antwort auf diesen Terroranschlag. Der erste jüdische Radiosender in der spanischsprachigen Welt, der erste auf dem Kontinent. Es gab zwar in verschiedenen Ländern jüdische Radioprogramme, aber keinen Sender wie unseren, der 24 Stunden am Tag on air ist. Als wir Radio Jai ins Leben riefen, bekamen wir keinerlei finanzielle Unterstützung, genauso wenig wie heute. Es ist eine Geschichte großer Leidenschaft, großen Einsatzes und großer Schwierigkeiten, ein Medium fast ohne Finanzmittel am Leben zu erhalten."
Miguel Steuermann ist 44 Jahre alt – ein humorvoller Chilene. Sein Vater wurde in Wien geboren, seine Mutter in Berlin. Steuermann, der vor 21 Jahren von Santiago de Chile nach Buenos Aires zog, trägt einen kurzen Bart und auf dem Kopf eine Kipa. Gefragt danach, was aus Radio Jai einen jüdischen Sender mache, denkt er kurz nach, sagt dann:
"Für uns war immer klar, dass bestimmte Themen im Programm von Radio Jai präsent sein müssen. Es gibt Werte, die für die jüdische Identität sehr wichtig sind: Die Freiheit, und der Respekt für Individualität und Unterschiede zwischen den Menschen. Auch Themen wie Diskriminierung, Antisemitismus und die besondere Beziehung der Juden zu Israel kommen ständig im Programm vor."
Im Nachrichten-Panorama, das Radio Jai einmal stündlich ausstrahlt, informiert Moderatorin Silvana Sapov über Reaktionen auf einen antisemitischen Vorfall in Buenos Aires. Der gewalttätige Angriff auf Teilnehmer einer offiziellen Feier zum 61. Jahrestag der Gründung Israels hatte auch in anderen argentinischen Medien großen Widerhall gefunden.
Neuigkeiten aus Israel und vom Nahost-Konflikt sind fester Bestandteil eines jeden Nachrichten-Panoramas, und auch der täglichen politischen Sendung von Radio Jai: Pensando las Noticias, auf Deutsch Nachdenken über Nachrichten.
"Wir wollen die Leute nicht mit Informationen übersättigen und verwirren. Sondern die nach unseren Maßstäben wichtigsten Themen auswählen und vertiefen."
Erläutert Moderator Shaul Hochberger bei einem Café con Leche, einem Milchkaffee, das Konzept der Sendung. Pensando las Noticias berichtet zwar vom argentinischen Wahlkampf, aber auch etwa über die Bemuehungen von US-Praesident Obama um eine Friedenslösung im Nahen Osten oder die Koalitionsverhandlungen in Israel. Die beiden letzteren sind Themen, über die argentinische Radiohörer und Fernsehzuschauer in der Regel wenig erfahren, weil die elektronischen Medien wenig Platz für Internationales einräumen.
Radio Jai hat über die Jahre stetig an Hörern gewonnen. Heute schalten den Sender rund 90.000 Menschen ein, 35 bis 40 Prozent davon – schätzt Direktor Miguel Steuermann – sind keine Juden. Radio Jai ist unabhängig und an keine Institution gebunden, wie Moderator Shaul Hochberger betont:
"Man hat uns schon für ein Sprachrohr des Mossad gehalten, oder der AMIA, der jüdischen Wohlfahrtsorganisation in Argentinien. Aber das sind wir nicht. Wir wollen unsere Sichtweise der Dinge vermitteln, so dass etwa jemand, der eine Zeitung liest, in der Israel verteufelt wird, auch die andere Seite der Medaille sieht. Und sich dann ein Urteil bilden kann, ohne für eine eine der beiden Seiten Partei zu ergreifen. Ich glaube, dies ist eine der Funktionen von Radio Jai."
Nicht nur ein anderer Blick auf die Aktualität, sondern auch ein Musikprogramm, das anders als der Mainstream klingt, zeichnet Radio Jai aus. Dazu gehören Klezmer – wie hier von der deutschen Gruppe Aufwind – Pop, Soul und Hiphop aus Israel oder jiddischer Tango. Danny Saltzman, Moderator des Unterhaltungsmagazins Coffee Break:
"Bei uns läuft Musik, die in keinem anderen Radio zu hören ist. Eine Menge von Leuten hört Radio Jai nur wegen der Musik. Manche bleiben an unserem Sender hängen, weil die Musik sie neugierig macht."
Auch für Danny Saltzman ist es eine tägliche Herausforderung, sich inhaltlich abzuheben vom Angebot anderer argentinischer Radiosender.
"Ein Unterschied ist, dass, wenn ein Fest aus dem jüdischen Kalender bevorsteht, wir uns damit beschäftigen. Wir bemühen uns darum, dass die Leute es kennenlernen und verstehen, worum es geht."
Saltzman stellt klar, dass auch immer mehr jüdische Hörer Aufklärungsbedarf hätten. Denn eine zunehmende Zahl von ihnen habe keine jüdischen Schulen besucht – oft aus finanziellen Gründen – und immer seltener werde religiöses Wissen von Generation zu Generation in den Familien weitergegeben.
"Wir nehmen also manchmal die Position des Lehrers, des Vaters oder Großvaters ein, wenn wir die Leute an einen bestimmten Feiertag erinnern, oder daran, dass der Moment gekommen ist, die Schabbat-Kerzen anzuzuenden. Nehmen wir zum Beispiel das Pessach-Fest. Statt den Hörern zu sagen, was genau sie an den Feiertagen zu essen und zu sagen haben, koennen wir auch ueber die Freiheit sprechen, um die es bei diesem Fest geht. Wir können dazu einen Rabbiner befragen, aber genauso gut eine Person, die die Rechte von Häftlingen verteidigt.
Oder jemanden, der sich für Einwanderer einsetzt, die Sklavenarbeit verrichten. Um zu verstehen, dass es bei Sklaverei nicht nur um die Juden in Ägypten geht, oder die Schwarzen in den USA vor 200 Jahren, sondern auch um Dinge, die heute vor unserer Haustuer passieren."
"Ich fände es wunderbar, wenn dieser Radiosender, über Witze und lustige Musik und Alltagsthemen hinaus, dazu beitragen könnte, dass eine Tausende von Jahren alte Kultur über die Grenzen unserer Gemeinschaft hinaus bekannt wird. Damit andere sie verstehen. Der Antisemitismus basiert doch größtenteils auf Unwissen. Wenn ich erreichen kann, dass man mich kennenlernt, wenn ich erzählen kann, was ich tue, warum ich mir etwas auf den Kopf setze oder nicht, warum ich bestimmte Dinge esse oder nicht, warum ich mich auf diese Weise anziehe oder auf eine andere, kann ich vielleicht die Mauer einreißen, die mich vom anderen trennt."
Ein Gespraech im Redaktionsflur. Miguel Steuermann, Direktor von Radio Jai, erfährt von einem Mitarbeiter, dass wieder einmal antisemitische Schmierereien auf einem jüdischen Friedhof in Buenos Aires entdeckt wurden. Antisemitische Äußerungen und Einstellungen sind auch in Argentinien traurige Realität. Ähnlich wie in Deutschland und anderen Ländern nahmen dort Anfeindungen gegen Juden zu, als Ende vergangenen Jahres Israels Offensive im Gaza-Streifen begann. Auch in Argentinien werden jüdische Bürger für das Vorgehen Israels im Nahost-Konflikt verantwortlich gemacht. Hinzu kommen das Unwissen und die tief verwurzelten Vorurteile, gegen die Danny Saltzman und die anderen Journalisten von Radio Jai anzugehen versuchen.
"Etwa, wenn wir in unseren Sendungen über Probleme diskutieren, die unsere Gemeinschaft betreffen. Ein Beispiel: in unserem Gebäude befindet sich eine Suppenküche für Arme. Ich bin überzeugt: Die meisten Argentinier glauben, dass die Juden viel Geld haben. Sie ahnen nicht, dass es jüdische Menschen gibt, die jeden Tag wegen eines warmen Essens hierher kommen. Wenn wir also auf Radio Jai erzählen, dass wir Essen oder Matratzen für die Armen suchen, dass also auch Menschen aus der jüdischen Gemeinschaft unter der Krise leiden, merken die Leute vielleicht, dass wir alle in derselben Welt leben. Und verlieren dieses Vorurteil, dass es den Juden gut geht, wenn es den Argentiniern schlecht geht."
"Ich bin auch Hörer von Radio Jai, selbstverständlich. Ich habe meine Radios so eingestellt, ein Radio ist immer auf Radio Jai, und das andere ist für klassische Musik."
Sagt Manfred Lewin, seit vielen Jahren Mitarbeiter des Radiosenders.
""Ich schätze die Vielfalt: sephardisches Judentum, aschkenasisches Judentum, argentinisches Judentum. Israel, die jiddische Sprache, die Vielseitigkeit - alles, was Radio Jai ausstrahlt. Die Interviews, die Nachrichten aus Israel, also ich glaube, es ist ein Radio, das sehr, sehr vollständig eine ganze Palette erfasst, und deswegen sehr interessant ist."
Manfred Lewin ist 83 Jahre alt und gebürtiger Berliner. Er ist einer der vielen Emigranten, die nach der Vertreibung aus dem nationalsozialistischen Deutschland in Argentinien eine neue Heimat fanden. Auf Radio Jai moderierte Manfred Lewin, eigentlich Ingenieur, unter anderem eine Sendereihe über das deutsche Judentum.
"Es ging um alles: religiös, kulturell, politisch, wissenschaftlich, und die besondere Rolle, die das deutsche Judentum im Laufe dieser zweitausend Jahre gespielt hat. Das Wirken des Judentums aus dem deutschen Kultur- und Sprachkreis ist unendlich."
Nur einmal habe er eine negative Reaktion auf seine Sendung bekommen, erinnert sich Manfred Lewin:
"Da sagte jemand: Ach dieser Lewin immer, der ist viel zu deutsch."
Manfred Lewin bedauert, dass ein Sender, der wie Radio Jai zur Verständigung und einem besseren Kennenlernen des Judentums beitrage, mit ständigen Geldproblemen zu kämpfen habe. Es gibt keinen Mitarbeiter, der die chronische Unterfinanzierung nicht als größtes Problem von Radio Jai betrachtet. Erst vor kurzem mussten die meisten Sendungen eine mehrmonatige Pause einlegen, weil das Geld knapp wurde.
"Viele Leute aus der jüdischen Gemeinschaft glauben wohl, dass es Radio Jai gibt, weil irgendjemand dafür bezahlt. Aber es zahlt keiner. Eigentlich finanzieren wir Mitarbeiter den Sender, weil wir nichts oder wenig verdienen."
Was Coffee Break-Moderator Danny Saltzman andeutet, ist, dass keine der jüdischen Institutionen Argentiniens Radio Jai finanziell unterstützt. Den politischen und sozialen Verbänden fehle es an Weitblick, sie hätten nicht verstanden, wie nützlich ein jüdischer Radiosender sein könnte, kritisiert Shaul Hochberger, Moderator der Polit-Sendung Pensando las Noticias. Aber wahrscheinlich erlaubt gerade die finanzielle Unabhängigkeit von den argentinischen jüdischen Organisationen Radio Jai seine journalistische Unabhängigkeit.
Vor kurzem hat der Sender eine Freundesvereinigung gegründet – um Hörer dazu einzuladen, ihrem Sender unter die Arme zu greifen. Wir bräuchten dringend eine neue Sendeanlage und größere Redaktionsräume, erzählt Direktor Miguel Steuermann. Zur Zeit kann er davon nur träumen. Aber Steuermann gibt die Hoffnung auf bessere Zeiten für Radio Jai nicht auf.
"Radio Jai überlebt wie das jüdische Volk – weil es überleben muss."