Radio-Doku "Electronic India"

Die vergessenen indischen Klangpioniere

06:24 Minuten
Paul Purgas vor einem elektronischen Gerät.
Schon früh entstand in Indien elektronische Musik. Paul Purgas hat darüber eine Dokumentation für die BBC produziert. © Paul Purgas
Von Robert Rotifer · 04.06.2020
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Der Musiker Paul Purgas hat in Indien nach einem alten Synthesizer gesucht - und fand ein bedeutendes Klangarchiv. In einer Dokumentation räumt er mit dem Irrglauben auf, die frühe elektronische Musik sei nur in Europa und Nordamerika entstanden.
Nichts vermag einen so verlässlich in eine retro-utopische Welt zu versetzen wie der Klang früher elektronischer Musik. Und auch die damit verbundenen Stereotypen gehen zurück in die Zeit ihrer Erschaffung.
Erst in der jüngeren Vergangenheit hat die Geschichtsschreibung sich damit vertraut gemacht, was für einen großen Anteil etwa Frauen an jener Pionierzeit hatten. Die Hand, die hier vor dem geistigen Auge an den Knöpfen eines vorsintflutlichen Synthesizers dreht, stellt man sich wohl als eine weiße, europäische vor. Aber diese Geschichte spielt ganz woanders.
"Als ich nach Indien kam, beschloss ich, im National Institute of Design die Bibliotheksarchive zu durchwühlen. Dort entdeckte ich diese Tonbänder, sah darauf sofort den Namen David Tudor, aber auch die fünf anderer Komponisten, Inder, die den Moog und dieses elektronische Musikstudio verwendeten," erinnert sich Paul Purgas.

Ein alter Synthesizer, eingemottet im Tierheim

Der britische Musiker und Performancekünstler, Historiker und Journalist Paul Purgas hat seine Forschungen in den Archiven des indischen National Institute of Design für die BBC in einer erhellenden Radio-Doku "Electronic India" zusammengefasst.
Purgas hat selbst indische Wurzeln und befasst sich intensiv mit den Werken früher elektronischer Musikerinnen und Musiker wie dem erwähnten Amerikaner David Tudor, einem Gefährten von John Cage. Als er 2018 erfuhr, dass Tudor Ende der Sechzigerjahre mit einem frühen, von Robert Moog konstruierten Synthesizer nach Indien gefahren war, beschloss er, dieser Geschichte hinterherzureisen.
Purgas sollte den alten Synthesizer finden, eingemottet in einem Tierheim. Vor allem aber fand er wertvolle, aus den Jahren 1969 bis 1973 stammende Tondokumente aus Indiens vergessenem Electronic Music Workshop.

Klangexperimente in Ahmedabad

"Er wurde als Teil einer viel breiteren, radikalen indischen Strategie für Kunst, Kultur und Design gebaut", erzählt Paul Purgas. "Das Studio ist eine klingende Manifestation dieses unglaublich vorwärtsgewandten Zugangs, der völlig parallel zu den damals im Westen stattfindenden Modernismen verläuft. Nicht diese rückständige, traditionellere Seite, die zu jener Zeit an den Westen kommuniziert wird."
Ahmedabad, die Fünfeinhalb-Millionenstadt im Gujarat, war der Standort des National Institute of Design, wo David Tudor mit seinen jungen indischen Schülern an Klängen experimentierte. Den letzten Überlebenden dieser Komponisten hat Paul Purgas für seine Doku aber in Puerto Rico aufgestöbert.
Jinraj Joshipura, der verschollene Komponist, liefert eines der wichtigsten Zitate entlang Paul Purgas faszinierender Reise in eine vorwärts blickende Vergangenheit: Wenn man in Indien lebe und nur indische Musik höre, wisse man nicht, was für Alternativen es gibt.

Elektronische Weltmusik

Was Paul Purgas hier zu Tage gefördert hat, passt nicht ins nationalistische Narrativ der heutigen indischen Regierung, es handelt sich tatsächlich um eine Weltmusik im Sinn eines globalen Bewusstseins. Als Kind asiatischer Eltern wuchs Purgas selbst mit dem Stereotyp auf, frühe elektronische Musik sei ein weißes, europäisch-nordamerikanisches Phänomen. Für ihn ist die Entdeckung dieses Klangarchivs also auch ein emanzipatorischer Akt:
"Es war etwas Besonderes, für Indien und seine Diaspora einen historischen Punkt auf der Landkarte zu markieren, wo damals definitiv elektronische Musik gemacht wurde. Dieses Aufsehen in der Welt zu schaffen, war für mich eine der größten Freuden."
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