Radikalisierung einer Volksgemeinschaft

Von Otto Langels · 27.01.2013
Dass die Nazis 1933 die Demokratie innerhalb kurzer Zeit radikal beseitigen konnten, schrieb man dem brutalen Terror einzelner zu. Ob die Menschen den Weg in die Diktatur widerwillig akzeptierten, mit Gleichmut hinnahmen oder mehrheitlich begrüßten, dieser Frage widmet sich die Wissenschaft verstärkt erst seit Kurzem.
Die Idee der Volksgemeinschaft, die die Nationalsozialisten erfolgreich propagiert und nach der Machtübernahme 1933 umzusetzen versucht hatten, war keine Erfindung der Nazis. Die Sozialdemokraten zum Beispiel verwendeten diesen Begriff in der Weimarer Republik, um in Zeiten sozialer und ökonomischer Krisen an den Gemeinsinn zu appellieren und eine bessere Zukunft zu beschwören. Aber geschickter als andere Parteien verstand es die NSDAP, so der Jenaer Historiker Norbert Frei in seinem Eröffnungsvortrag, den durch die Weltwirtschaftskrise entstandenen enormen Hunger nach gesellschaftlicher Integration zu stillen.

"Als Traum oder Wunschvorstellung faszinierte der Gedanke der Volksgemeinschaft längst vor 1933 viele, und für viele wurde dieser Traum nach 1933 dann Wirklichkeit, jedenfalls phasen- und ansatzweise. Für andere bedeutete die Idee bekanntlich blanken Terror, schon vor 1933 und mehr noch danach."

Dem NS-Regime kam zugute, dass es den Rückgang der Massenarbeitslosigkeit, die sich bereits vor der Machtübernahme abgezeichnet hatte, als Erfolg der eigenen Wirtschafts- und Sozialpolitik ausgeben konnte. Der ökonomische Aufschwung reduzierte die Zahl der Arbeitslosen von fünf Millionen im Jahr 1932 auf eine Million fünf Jahre später. Staatliche Programme wie der soziale Wohnungs- und der prestigeträchtige Autobahnbau verliehen dem "Dritten Reich" das Image einer modernen, dynamischen Gesellschaft, meint der Sozialpsychologe Harald Welzer.

"Karriereversprechungen wurden nicht nur gemacht, sondern die wurden auch realisiert. Dasselbe gilt für solche Angebote wie ‚Kraft durch Freude‘, aber auch natürlich durch die Beschäftigungsprogramme etc., und durch die Aufbruchsstimmung insgesamt, die auch darüber symbolisiert wurde, dass es breit angelegte Arbeitslosenprojekte, Autobahnbau, was auch immer, alle diese Dinge gegeben hat. Und Ideologie wird immer dann wirkungsmächtig, wenn die Leute meinen, das setzt sich in die Tat um."

Die Ankündigungen der Nationalsozialisten waren also nicht nur bloße Rhetorik und Propaganda, sie schienen sich zunächst zu bewahrheiten und verliehen dem Regime eine gewisse Glaubwürdigkeit. Harald Welzer spricht von einem Attraktivitätssog gerade für junge Menschen.

"Der Nationalsozialismus hatte das jüngste Führungsregime, was es überhaupt in einer modernen Gesellschaft jemals gegeben hat. Die Leute kommen in diese Positionen hinein mit Ende 20 bis Mitte 30, selbst Hitler war nicht sonderlich alt 1933. Und das darf man gar nicht unterschätzen, was das von der psychosozialen Dynamik für eine Gesellschaft bedeutet."

Statt Herkommen und Rang sollte unterm Hakenkreuz Leistung zählen, ein soziales Integrationsangebot, dass viele attraktiv fanden. So speiste sich die Zustimmung zum NS-Regime aus eingelösten persönlichen Erwartungen und allgemeinen Hoffnungen, aber auch aus Opportunismus und Angst. Permanent forderten die Nationalsozialisten Loyalitätsbekundungen, vom offiziellen "Heil Hitler" über die "Eintopfsonntage" des Winterhilfswerks bis zu den legendären Zeltlagern der HJ.

Selbst sozialdemokratisch oder kommunistisch eingestellte Arbeiter wollten oder konnten sich der Verheißung der Volksgemeinschaft nicht entziehen. Michael Wildt, Historiker an der Berliner Humboldt-Universität:

"Denken Sie nur daran, dass der 1. Mai 33 von den Nationalsozialisten zum Feiertag gemacht worden ist, und der 1. Mai stand unter dem Motto ‚ehret die Arbeit, und achtet den Arbeiter‘. Das waren Töne, die vor 1933 von der Schwerindustrie oder auch von den bürgerlichen Kabinetten unter Brüning nicht zu hören waren."

Die Konferenz zur Holocaust-Forschung trägt den Untertitel "Die Radikalisierung Deutschlands ab 1933", ein Hinweis darauf, dass die weit verbreitete und über längere Zeit hinweg wachsende Zustimmung zum NS-Regime einher ging mit der Diskriminierung, Ausplünderung und schließlich Ermordung ganzer Bevölkerungsgruppen. Nur wer zur Volksgemeinschaft gehörte, konnte von den Versprechungen der Nationalsozialisten profitieren; die Volksgenossen konnten sich zum Beispiel an Hab und Gut der deportierten Juden bereichern.

"Die Attraktivität dessen, ungefährdet von Ausgrenzung zu sein, Teil derjenigen zu sein, die dazugehörten, Teil derjenigen zu sein, die auch von der Entwicklung profitieren könnten, die ist natürlich überhaupt nicht zu unterschätzen."

Die Radikalisierung Deutschlands hatte neben den materiellen auch sozialpsychologische und moralische Aspekte, mit denen sich die Tagung in Workshops beschäftigt: Das NS-Regime gewöhnte die Volksgemeinschaft durch die systematische Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen sukzessive an die Anwendung von Gewalt - vom Boykott jüdischer Geschäfte über Berufsverbote und brennende Synagogen bis zur Deportation und Ermordung.

"Man kann es sich so vorstellen: Wenn Stufen der Gewalt möglich werden, die nicht eingehegt werden in dem Moment, öffnen sie neue Gewalträume, die wiederum andere Gewalt, bis dahin nicht so vorstellbare Gewaltpraktiken möglich machen."

Wie wirkungsmächtig die nationalsozialistische Volksgemeinschaft über 1945 hinaus war, zeigen Befragungen aus den 1980er und 90er-Jahren: Von denen, die das "Dritte Reich" zumindest noch als Jugendliche erlebt hatten, bekannten nahezu zwei Drittel, an den Nationalsozialismus geglaubt zu haben, die Hälfte sah - trotz Auschwitz und Stalingrad - ihre Ideale in ihm verkörpert, und 40 Prozent bewunderten den "Führer".