Radikale Innenschau

Der Titel dieser Erzählung führt zunächst in die Irre. Denn in diesem Text ist nur von einem einzigen Fluss die Rede, nämlich von jenem namenlosen Fluss in einer namenlosen Industriestadt in Sibirien, in der der namenlose (und auch sonst durch keinerlei Äußerlichkeiten näher gezeichnete) Ich-Erzähler seine Kindheit und Jugend verbracht hat.
Und sehr erschöpfend wird auch von diesem Fluss nicht erzählt, kaum mehr, als dass es ihn gibt, er wie alle sibirischen Flüsse nach Norden fließt und dem Ich-Erzähler als Junge die Pelzmütze hineingefallen ist.

In diesem Detail steckt ein wichtiges Element dieses Erzählens. Die Reise des Erzähler-Ichs in die eigenen Erinnerungen sucht nicht die Rekonstruktion von Ereignissen, Lebensphasen und Begegnungen. Sie ist vielmehr eine radikale Innenschau auf solche Momente, die dem Erwachsenen als identitätsprägend in den Sinn kommen. Sie tun es, weil ihr Nachklang hörbar geblieben ist oder Empfindungen, Gefühle oder Gedanken in solchen Momenten ihren Ursprung hatten, die den Erwachsenen weiter beschäftigen.

Als der kleine Junge seinem Vater mit unaufhörlichem Geplapper auf die Nerven geht, droht der, ihm einen Blutegel auf die Zunge zu setzen. Ob das wehtue, fragt das erschrockene Kind und bricht in Schluchzen aus, als der Vater das bejaht. Das Ur-Erlebnis von Bedrohung, Angst und Schutzlosigkeit, die plötzlich hereinbrechen, ist ohne Zweifel ein solcher Moment.

Die erste Fiebergrippe, an die man sich erinnern kann, die gesteigerte Aufmerksamkeit in der Schule, wenn man mit einem Gipsarm kommt, der beeindruckende Besuch in einem Bergwerksschacht, Gespräche mit dem Großvater – es sind meist unspektaktuläre Ereignisse, die das Erzähler-Ich aufreiht und reflektierend betrachtet.

Solche Reflexionen können durchaus aus völlig ungreifbaren "Ereignissen" entstehen, etwa jene überwältigende Empfindung, ganz in der Welt, ein Teil von etwas Großem, Umfassenden zu sein. Was macht meine Identität aus, wenn man alle Äußerlichkeiten infrage stellt, weil sie im Grunde austauschbar sind? Auf diese Frage läuft die Erzählung letztlich hinaus: Der Text selbst inszeniert sich als die Antwort darauf, oft genug mit ironischer Ratlosigkeit.

Verwoben ist diese Séance der Selbstergründung mit Betrachtungen über Sibirien und seine Bewohner. Man erwarte aber weder Kapitel aus einem Sachbuch oder eingestreute literarische Reise-Reportagen! Jewgenij Grischkowez wirft seine Blicke auf eher selten betrachtete Aspekte: Wie verhalten sich Sibirier im Süden? Wie gehen sie mit Besuchern aus dem Ausland um? Wie ist das Lebensgefühl in einem riesigen Territorium, in dem es zwar sehr viel Wald und Wiese, aber kaum einen Hügel gibt? Und in dem so gut wie kein Zeugnis einer weitreichenden Geschichte existiert?

Auf geschickte Weise verbindet Grischkowez die zwei Stränge seiner Identitätssuche und findet dabei jenen zwischen Ernst und Witz ausbalancierten Ton, der schon sein Romandebüt "Das Hemd" ausgezeichnet hat.


Besprochen von Gregor Ziolkowski


Jewgenij Grischkowez: Flüsse
Aus dem Russischen von Beate Rausch
Ammann Verlag, Zürich 2010
171 Seiten, 18,95 Euro