Radikale Emanzipation

08.04.2013
Die Occupy-Bewegung, der arabische Frühling oder der Massenmord von Anders Behring Breivik: Der slowenische Philosoph Slovoj Zizek untersucht in diesem Band "Träume" des Jahres 2011 - zerstörerische und emanzipatorische.
"Wir leben nicht in der besten aller möglichen Welten; wir dürfen, wir sind sogar verpflichtet, über Alternativen nachzudenken." Um solche anderen Lebens- und Handlungsmöglichkeiten geht es in Slavoj Zizeks neuem Buch "Das Jahr der gefährlichen Träume". Als Träume des Jahres 2011 betrachtet Zizek etwa die Occupy-Bewegung, den arabischer Frühling oder den Massenmord von Anders Behring Breivik: Träume, die in unterschiedliche Richtungen weisen, zerstörerische und emanzipatorische.

Emanzipation wovon? Um das zu klären, nimmt der global operierende slowenische Philosoph Zizek, wie schon in vielen seiner Bücher zuvor, den globalen Kapitalismus ins Visier. Als aufgeklärter Kommunist glaubt er zuerst an das Reale der Verhältnisse, um dann ebenso beharrlich für Reflexion und geistige Durchdringung statt für blinden Aktionismus zu plädieren.

Zum Realen gehört für Zizek der Umstand, dass es immer noch einen Klassenkampf gebe; dass eine Klasse von den herrschenden Verhältnissen bevorzugt und dass eben dies durch die Verhältnisse verschleiert werde. Zugleich führt er in einer brillanten Analyse aus, wie sich die Angst vor dem "ungreifbaren" Kapitalismus auf das "greifbare" "böse ethnische Dings" projiziert. So erfasst er Phänomene wie den drastischen Rechtsruck in Ungarn oder Breiviks Tat auf überzeugende Weise.

Die Ökonomie durchdringt nach Zizek also alles, der Kapitalismus ist eine Bestie, die wir augenscheinlich nicht bändigen können, und auch die Demokratie ist in seinen Augen nicht die beste aller Staatsformen. Aber was denn dann? "Der einzige Ausweg für Europa aus dieser Sackgasse besteht darin, sein Erbe der radikalen und universalen Emanzipation wiederzubeleben. Die Aufgabe lautet, über die bloße Toleranz anderer hinaus zu einer emanzipatorischen Leitkultur zu gelangen."

Einerseits schlägt der Autor vor, direkten Widerstand, der immer auch das System bestätigt, gegen das er agiert, für einen Bruch mit dem System selbst einzutauschen. Zugleich mahnt er an, die globale Protestenergie nicht hastig in konkrete Forderungen umzusetzen. Vielmehr gehe es erst einmal darum, das "Vakuum in der herrschenden Ideologie" zu besetzen und die Zeit zu haben, diesen Raum auf positive Weise zu füllen. Alles dient dazu, einer "radikalen ‚Andersheit’ zum Kommen zu verhelfen".

Dieses mögliche "Außerhalb" des aktuellen Systems ereignet sich zum einen im Denken und zum anderen durch "Ereignisse": durch spontane Ausbrüche, Geschehnisse oder Handlungen, welche die Macht haben, die allein vom Ökonomischen beherrschten Verhältnisse neu zu strukturieren. Politische Ereignisse nennt Zizek "Zeichen aus der Zukunft".

Mit diesem Ausdruck verknüpft er die Erwartung, dass es an uns allen liegt, mögliche Zukünfte wie die Occupy-Bewegung oder die Proteste auf dem Tahrir-Platz zu gültigen Vorboten unserer eignen Zukunft zu machen – und zugleich, darauf besteht der Autor dieses ebenso klugen wie gegenwärtigen Buches, empfänglich zu bleiben für ihre "radikale Offenheit".

Besprochen von Ariadne von Schirach

Slavoj Zizek: Das Jahr der gefährlichen Träume
Fischer Verlag 2012
224 Seiten, 19,99 Euro
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