Radikale Abrechnung mit dem Altwerden

Rezensiert von Edelgard Abenstein · 31.10.2005
"Das Buch der Enttäuschungen" rechnet radikal mit dem Altwerden ab. Keine Weisheit weit und breit. Doch bei aller Schonungslosigkeit stürzt Margit Schreiner uns nicht etwa in Depressionen. Im Gegenteil. Alles, so der Tenor des Buches, ist eine Frage des Abstands. Und wenn der gelingt, dann enthüllt am Ende auch jede Enttäuschung ihre zutiefst komische Seite.
Es klingt nach Karl Valentin. Kurz vor ihrem Tod und abgestellt in einem Pflegeheim führt die 83-jährige Tante Henriette die Beschwerde ihres Lebens: "Wer hätte gedacht", so sagt sie, im Hader gegen die Einsamkeit, "dass unsere Eltern uns einmal so im Stich lassen würden". Klar, sie ist nicht mehr ganz bei sich, doch, so die ähnlich alte Erzählerin, sie fasst in diesem Ausruf zusammen, was die menschliche Existenz bis zum Ende bestimmt: scharfsichtig, komisch und absurd. Das ist der Margit-Schreiner-Ton seit den "Rosen des Heiligen Benedikt", ihrem ersten Buch vor beinahe 20 Jahren. Und das ist von Anbeginn an das Thema, das die 1953 geborene österreichische Autorin umtreibt. In mannigfachen Variationen hat sie es seither virtuos durchdekliniert.

Es geht um die allererste Liebe, die zur Mutter natürlich, die zugleich die schwierigste ist, weil sie nie aufhört, die einen nicht loslässt, ob man möchte oder nicht und die alle folgenden Lieben zuverlässig prägen wird. Lebenslange Gefangenschaft also diagnostiziert Margit Schreiner hier wieder einmal, und wie jede Art von Unfreiheit löst diese zunehmend Panik aus, Trotz, Hass und das fortwährende Bestreben, sich aus der Umklammerung zu lösen. Dabei schickt die Autorin ihre Heldin sich erinnernd durch Episoden ihres Lebens, die den unaufhaltsamen Prozess einer Desillusionierung, das allmähliche Verlöschen aller Träume und Hoffnungen nachzeichnen.

Erzählt wird aus der Perspektive einer Toten, einer Frau, die endlich gestorben ist, nachdem sie zwei Jahre lang durch einen Schlaganfall bewegungsunfähig wurde. Ihre Bilanz ist bitter. Nichts wollte ihr gelingen. Alles, wonach sie sich sehnte, hat sich gegen sie gewendet oder ging dahin wie alle Menschen, denen sie einst verbunden war. Allerdings, dass es ihr geglückt ist, dem Pflegeheim zu entgehen, bedeutet einen Triumph.

Wann, so fragt sie, hat das Leben begonnen. In der Kindheit, als das Reich der Freiheit wie ein Abenteuerspielplatz vor ihr lag, nur dazu da, erkundet zu werden. Doch schon damals wurde alles begrenzt durch das Regelwerk der Erwachsenen, durch die Angst der Mutter, die Unbeholfenheit des Vaters. Hier gelingt Margit Schreiner eine Szene von bizarrer Komik, wenn eine Einjährige sich die Welt aneignet, durch die Wohnung tapsend wie auf einer Expedition durch die Wildnis, um am Ende alles in heilloses Chaos zu stürzen.

Oder fängt das Leben mit dem Erwachsenwerden an, wenn noch beinahe alles möglich scheint und die meisten Entscheidungen versprechen, ins Freie führen. Oder erst dann, wenn schon mal ein vorläufiges Resümee gezogen wird, mit fünfzig, und noch ein paar große Chancen die Gefühlswelt beleben, weil sie angeblich auf keinen Fall die letzten sind.

"Das Buch der Enttäuschungen" rechnet radikal mit dem Altwerden ab. Keine Weisheit weit und breit. Doch bei aller Schonungslosigkeit stürzt Margit Schreiner uns nicht etwa in Depressionen. Im Gegenteil. In bewährter Manier greift sie zum Mittel der unzulässigen Verallgemeinerung, der Übertreibung. Auch wenn nicht alle Passagen gelungen sind, mit dem Bernhardschen Tiradenton begegnet sie von vornherein der Gefahr der niederdrückenden Schwermut. Zuverlässig vertreibt sie damit noch jede Trübsal.

Alles, so der Tenor des Buches, ist eine Frage des Abstands. Und wenn der gelingt, dann enthüllt am Ende auch jede Enttäuschung ihre zutiefst komische Seite. Man muss sie nur lange genug betrachten.

Margit Schreiner: Buch der Enttäuschungen
Schöffling & Co. 2005,
174 Seiten, 18,90 Euro