Rabbinerausbildung im Masorti-Judentum

Traditionen ins Heute übersetzen

08:59 Minuten
Geladene Gäste verfolgen während der Eröffnung des "Europäischen Zentrums für Jüdische Gelehrsamkeit" an der Universität Potsdam gegenüber dem Neuen Palais die Reden. Gleichzeitig erhielten das Abraham Geiger Kolleg und das Zacharias Frankel College ein neues Domizil auf dem Potsdamer Campus. Nach dem Umbau der einstigen Orangerie und des historischen Nordtorgebäudes ist im Park Sanssouci ein modernes Lehr- und Studiengebäude mit einer Synagoge entstanden.
Das neu eröffnete Zentrum für Jüdische Gelehrsamkeit der Uni Potsdam bildet einen Campus, den das Zacharias Frankel College und das Abraham-Geiger-Kolleg gemeinsam nutzen. © picture alliance / dpa / Sören Stache
Sandra Anusiewicz-Baer im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 07.11.2021
Audio herunterladen
Am Potsdamer Zacharias Frankel College werden Rabbinerinnen und Rabbiner der Masorti-Strömung ausgebildet. Leiterin Sandra Anusiewicz-Baer erläutert, was diese Form des Judentums ausmacht und warum die Anforderungen für eine Bewerbung hoch sind.
Anne Françoise Weber: Wer sich in Deutschland entscheidet, Rabbiner oder Rabbinerin zu werden, hat die Wahl zwischen verschiedenen Ausbildungsstätten: Es gibt das liberale Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam, das orthodoxe Rabbinerseminar zu Berlin, das allerdings nur Männer ausbildet, und dann gibt es noch das konservative Zacharias Frankel College, ebenfalls in Potsdam angesiedelt.

Festhalten am jüdischen Recht

Sandra Anusiewicz-Baer ist promovierte Pädagogin und Leiterin des Frankel College. Was meint eigentlich konservatives oder traditionelles Judentum. Der hebräische Begriff dafür ist Masorti. Was verbirgt sich dahinter?
Sandra Anusiewicz-Baer: Masorti ist der Begriff, den ich bevorzuge, um unser College zu beschreiben. Konservativ ist so ein Begriff, der vor allen Dingen in Amerika gebräuchlich ist und dort auch entstanden ist in Abgrenzung zum liberalen, zum Reformjudentum. Konservativ bezieht sich auf das Festhalten an der Halacha, an jüdischem Recht.
Das Ganze begann Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland beziehungsweise mit Zacharias Frankel, nach dem unser College auch benannt wurde, der der Gründungsdirektor des jüdisch-theologischen Seminars in Breslau wurde. Dort hat eine moderne Rabbinerausbildung begonnen.
Es geht tatsächlich um die Traditionen, wie sie heute gelebt werden können. Das ist ein permanentes Spannungsverhältnis: Wie kann also dieses Alte übersetzt werden und immer wieder tatsächlich auch infrage gestellt werden angesichts der Herausforderung des Hier und Jetzt?

Unterschiedlich strenge Auslegung

Weber: Wenn wir das ganz konkret auf die religiöse Praxis runterbrechen: Beispiel Schabbatruhe, da gibt es klare religiöse Vorschriften, was am Schabbat erlaubt ist und was nicht. Was ist in einer Masorti-Synagoge möglich, was in einer orthodoxen Synagoge nicht passieren würde, weil dort die Schabbatruhe wahrscheinlich noch strenger ausgelegt wird? Was ist bei Liberalen möglich, was in einer Masorti-Synagoge nicht möglich wäre am Schabbat?
Anusiewicz-Baer: Das Berühmte ist die Tschuwa, also die Auslegung des Problems: Wie komme ich überhaupt zur Synagoge am Schabbat? Gerade wenn man in so einer Stadt wie Berlin und nicht gleich um die Ecke von der Synagoge lebt. Normalerweise gilt das Verbot, dass man am Schabbat nicht mit dem Auto fährt und auch keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzt.

U-Bahn-Fahren am Schabbat erlaubt

Es gibt in der Masorti-Bewegung Tschuwot, Antworten auf dieses Problem, dass man durchaus, wenn man bestimmte Vorkehrungen trifft, wie zum Beispiel das Ticket eben vor Schabbat schon kaufen, weil man auch kein Geld mit sich führen soll, dass man aber, wenn das geregelt ist, dann durchaus auch öffentliche Verkehrsmittel benutzen darf. Das wäre zum Beispiel im orthodoxen Judentum nicht möglich, da gibt es ein ganz striktes Verbot. Im liberalen Judentum ist es natürlich möglich.
Sandra Anusiewicz-Baer trägt einen blauen Pullover und orange Ohrringe.
Vertiefende Auseinandersetzung mit jüdischem Recht und klassischen religiösen Texten: Sandra Anusiewicz-Baer leitet das Zacharias Frankel College in Potsdam.© Maria Conradi
Weber: Wenn wir jetzt auf die Ausbildung schauen, also den akademischen Teil, den absolvieren die Studierenden, genau wie die vom Abraham-Geiger-Kolleg, an der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam. Dort lehren Sie selbst auch Religionspädagogik. Aber welche Kurse bietet das College zusätzlich an? Was gehört noch dazu, um Masorti-Rabbiner oder -Rabbinerin zu werden?
Anusiewicz-Baer: Es ist ein zweigleisiges Studium. Das eine ist die akademische Ausbildung an der Universität Potsdam, an der School of Jewish Theology, und gleichzeitig haben wir am Zacharias Frankel College noch das Frankel Beit Midrash.

Studium klassischer Texte

Das ist eine Art Lehrhaus, eine Lehratmosphäre, wo die klassischen Texte studiert werden und wo sehr viel Augenmerk gelegt wird auf das Talmud-Studium und auf das Studium von jüdischem Recht. Das ist tatsächlich zentral, das verkörpert auch dieses Anknüpfen und diese Verbindung mit den Traditionen, dass man immer wieder zurückgeht zu den Quellen.
Weber: Wer bewirbt sich denn? Sind das Menschen, die schon aus einer Masorti-Gemeinde kommen und wissen: Das ist die richtige Ausbildungsstätte für mich? Oder sind es Menschen, die sich angucken, was Sie anbieten, und sagen: Ach ja, eigentlich ist genau das meine Form des Judentums, darin will ich Rabbiner oder Rabbinerin werden?
Anusiewicz-Baer: Es ist gar nicht so einfach zu beantworten, was die Motivation der Interessenten ist und ob sie tatsächlich aus einer Masorti-Gemeinde kommen. Es ist auch so, einige zum Beispiel, die beginnen jüdische Theologie zu studieren in Potsdam, noch ganz unspezifisch, also gar nicht jetzt auf Rabbinat. Dann aber entdecken sie dieses Berufsbild Rabbiner und entscheiden sich für eines der beiden Colleges, je nachdem, wie sie auch ihre Observanz definieren.
Universität Potsdam (Brandenburg): Universitätsstudiengang für Jüdische Theologie. Studenten bei einer Veranstaltung im Audimax der Universität. Der Bachelorstudiengang an der neuen School of Jewish Theology ist europaweit einzigartig. Das Studium in Potsdam steht auch Nichtjuden als reines Theologiestudium offen.
Seit 2013 hat die Universität Potsdam mit der School of Jewish Theology ein eigenes Institut für jüdische Studien, an dem auch künftige Rabbiner und Rabbinerinnen lernen.© picture alliance / dpa / Ralf Hirschberger
Das ist auch ein entscheidender Unterschied zwischen der liberalen und der Masorti-Ausbildung, dass die Observanz bei uns eine viel größere Rolle spielt. Je nachdem, wo man sich da verortet, entscheidet man sich dann auch, wie sehr man dem Religionsgesetz folgt.

Gemischtreligiöse Ehe nicht erlaubt

Weber: Sie haben auf Ihrer Webseite auch Richtlinien für religiöse Praxis, die Sie den Bewerbern und Bewerberinnen schon mal mitgeben. Was steht denn da zum Beispiel drin?
Anusiewicz-Baer: Eine Sache ist zum Beispiel, dass ich in meiner Partnerwahl vielleicht nicht so frei bin. Wenn man bei uns studiert, hat man eine Partnerin, einen Partner, und entscheidet sich - das ist was Festes, was Ernstes - und möchte heiraten. Wenn der Partner oder die Partnerin nicht jüdisch sind, dann geht das nicht. Das würde der Ordination zum Beispiel im Wege stehen, also dem Abschluss des Studiums und der Verleihung des Rabbinatstitels, weil es im Masorti-Judentum keine gemischtreligiösen Ehen gibt. Wir reden den Studierenden nicht die Partnerwahl aus, sondern man tritt in ein Gespräch und überlegt gemeinsam, welchen Weg man gehen kann.
Man könnte durchaus sagen, dass es sehr stark ins private Leben reinregiert. Die religiösen Richtlinien, die betreffen auch, dass natürlich erwartet wird, dass man koscher isst. Wir haben auch verschiedene Richtlinien für die Gebetspraxis zum Beispiel. Man muss da natürlich auch unterscheiden: Die Leute, die sich bei uns bewerben, die sollen noch keine Rabbiner oder Rabbinerinnen sein, sie sollen es erst werden. Nichtsdestotrotz gibt es eben religiöse Standards, will ich mal sagen, die wir voraussetzen.
Blick in die neue Synagoge während der Eröffnung des "Europäischen Zentrums für Jüdische Gelehrsamkeit" an der Universität Potsdam.
In der neuen Synagoge des Zentrums für Jüdische Gelehrsamkeit gestalten Studierende der liberalen und der Masorti-Strömung des Judentums gemeinsam Gottesdienste.© picture alliance / dpa / Sören Stache
Weber: Seit Sommer gibt es das Europäische Zentrum für Jüdische Gelehrsamkeit in Potsdam, wo das Zacharias Frankel College auch integriert ist. Hat sich da für Sie und für die Studierenden irgendwas verändert?
Anusiewicz-Baer: Vielleicht ist es noch zu früh, um tatsächlich von einer Veränderung durch das Europäische Zentrum für Jüdische Gelehrsamkeit zu sprechen. Doch was ich schon wahrnehme, ist, dass dieses Zentrum tatsächlich eine Zentrierung zur Folge hat, dass wir da alle einfach zusammen sind und wirklich so einen jüdischen Campus bilden.

Die neue Synagoge nutzen alle gemeinsam

Weber: Kurz dazwischen: Da ist auch das Abraham-Geiger-Kolleg dabei und die School of Jewish Theology und eine neue Synagoge auch.
Anusiewicz-Baer: Genau. Wir haben diesen akademischen Überbau durch die School, wir haben diese beiden Rabbinerseminare, die zwei verschiedene Strömungen repräsentieren, wo die Studenten aber in permanentem Austausch miteinander sind – zum Beispiel beim Gottesdienst.
Natürlich unterscheidet sich ein Masorti-Gottesdienst von einem liberalen, von einem Reformgottesdienst, aber das ist das Tolle, dass man sagt: Okay, ich kann hier zeigen, was macht mich als Masorti-Jude, Masorti-Jüdin aus, und was macht dich aus als liberaler Jude oder Jüdin, und wo geht es zusammen, wo kommen wir vielleicht auch nicht zusammen.
Ich glaube, da ist tatsächlich etwas im Entstehen. Man muss es auch ganz klar so sagen, es ist einfach wahnsinnig schön. Diese preußische Umgebung, dieses Ambiente des 18. Jahrhunderts, dieses neu gestaltete renovierte Ensemble, das erinnert vielleicht auch an die Spannungen, die es gegeben hat im 18. Jahrhundert, auf dem Weg zur Aufklärung, auf dem Weg zum Recht als Staatsbürger für die jüdische Minderheit. Das zu leben, da jetzt dort zu sitzen, das ist eine ganz tolle Sache.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema