Quo vadis Europa?
So leicht werden die Europäer uns nicht los, kommentierte ein türkischer Kolumnist die Auseinandersetzung um die Frage, welche Sanktionen die Europäische Union dem Beitrittsbewerber Türkei wegen dessen unfreundlichem Verhalten gegenüber dem EU-Mitglied Zypern androhen soll. In der Tat: Wie die Debatte darüber verläuft, ob man die Verhandlungen mit Ankara aussetzen oder, wie es die Kommission in Brüssel wünscht, nur teilweise einfrieren soll, ruft die Befürchtungen jener wach, die allein schon deshalb vor der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gewarnt hatten, weil sie einen fatalen Automatismus fürchteten.
Ihr Argument: Bislang sei noch jedes Land, mit dem Brüssel über eine künftige EU-Mitgliedschaft offiziell zu verhandeln begann, so gut wie automatisch Mitglied im europäischen Club geworden. Um solche Befürchtungen zu zerstreuen, wurde der Beschluss über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen formell an die Bedingung geknüpft, sie seien "ergebnisoffen" zu führen. Den Gegnern einer türkischen Mitgliedschaft ließ dies wenigstens die Hoffnung auf ein Scheitern.
Dahinter verbirgt sich die Auseinandersetzung um die so genannte Finalität Europas, um die Grenzen der Europäischen Union. Die EU, schrieb der Franzose Régis Debray, habe mit dem Ende des Kalten Krieges ihre auf Konfrontation beruhenden Grenzen verloren – wo es aber keine Grenzen gibt, gebe es "nichts Geheiligtes, keine Notwendigkeit, keinen gemeinsamen Glauben noch das Gefühl der Zugehörigkeit". Seine These: "Wenn Europa den Mut hätte, Gegner zu haben, würde es anfangen, zu existieren".
Das klingt reichlich absolut, dem einen oder anderen mag es philosophisch gestelzt vorkommen - und doch steckt eine Menge Wahrheit darin. Wer die geographische Begrenzung Europas will, der möchte letztlich, dass es Identität und politische Gestalt gewinnt. Wer stattdessen seine Entgrenzung will, sieht es eher als lockeren Verbund mehr oder weniger nationaler Volkswirtschaften in Form einer riesigen Freihandelszone. Nicht zufällig sind die Gegner eines begrenzten Europa auch diejenigen, die am Verbissensten an ihrer nationalen Souveränität festhalten – die Briten und einige Skandinavier, unter den neu hinzugekommenen Mitgliedern vor allem die Polen und die Tschechen.
Viele Osteuropäer möchten das beste beider Welten – voll stimmberechtigte Mitglieder der EU und zugleich im Vollbesitz ihrer nach der Wende wieder gewonnen Souveränität zu sein – dass beides auf Dauer miteinander nicht vereinbar ist, zählt zu den schwierigen Lernprozessen, die Polen und Tschechen noch vor sich haben. Polens Blick ist ohnehin auf die Ukraine gerichtet – ist sie, wenn es nach Warschau Vorstellungen geht, wenn nicht morgen, dann übermorgen der nächste Beitrittskandidat? Nur: Logisch ist Kaczynskis Position nicht. Er blockiert die Verhandlungen der EU mit Russland, weil dieses Fleischimporte aus Polen boykottiert und nimmt die Europäer damit praktisch in Geiselhaft. Wenn jedoch die Türken zyprische Waren boykottieren und die Zypern und Griechen nach Sanktionen rufen, kümmert ihn das nicht einen deut. Europäische Solidarität sieht anders aus.
Es wird keine Jubelfeiern geben, wenn am 1. Januar Rumänien und Bulgarien der EU beitreten, denn so gewiß sie zu einem begrenzten Europa gehören, wie übrigens auch die Balkanstaaten, so umstritten ist doch, ob sie bereits über alle jene Qualifikationen verfügen, die für die Clubmitgliedschaft unerlässlich sind. Mit ihrem Beitritt ist die Aufnahmefähigkeit der EU vorerst erschöpft, zumal sie mit noch mehr Mitgliedern immer schwieriger zu steuern ist. Je größer die Überdehnung der EU, umso wichtiger wird deshalb der Versuch, eine europäische Koalition der Willigen zu schaffen, die sich zusammentun, um dem alten Ideal der Europäer der ersten Stunde schrittweise näher zu kommen: einem politisch integrierten Europa. Vielleicht weist Belgiens Ministerpräsident Guy Verhofstadt den Weg, wenn er von einer Organisation europäischer Staaten spricht, die sich zusammentun, um eine gemeinsame Finanz- und Steuerpolitik zu entwickeln, diplomatisch geeint nach Außen aufzutreten und eine gemeinsame europäische Armee zu schaffen.
Wie immer man es nennen mag - Kerneuropa, Avantgarde oder Pioniergruppe - Verhofstadt denkt, dass aus seiner Koalition der Willigen, die er vor allem aus den Ländern der Eurozone rekrutieren möchte, ein europäischer Bundesstaat entstehen könnte, um den herum sich dann die Mitglieder restlichen EU gruppieren.
Ist alles nur ein schöner Traum? Wer geht voran? Das sind berechtigte Fragen, denn wo immer man hinschaut, regieren Vagheit, Ambivalenz oder nationale Nabelschau, dazu leiden einige Staaten, auf die es bei einem Anlauf zu diesem Kerneuropa ankäme, an politisch instabilen Verhältnissen. Wie lange sich ein Proeuropäer wie Prodi mit seiner zusammen gewürfelten Linkskoalition in Italien halten kann, steht in den Sternen. Frankreich geht in ein Wahljahr – mit einer sozialistischen Kandidatin, die außenpolitisch nicht die geringste Erfahrung hat, wie ihr Desaster im Libanon jüngst zeigte; zudem ist ihre Partei in Europafragen zerrissen, wie das Ja und Nein führender Sozialisten in der Frage der europäischen Verfassung bewiesen hat. Und Berlin? Es schiene noch der Verlässlichste im europäischen Bunde, wenn die Große Koalition innerlich in der Frage des Türkeibeitritts nicht zerstritten wäre.
Es fehlt an der Stimme und der Kraft, die Visionäres in Realität umzuwandeln verstünde. Oder fehlt es vielleicht nur an der Not, die zum Handeln zwingt?
Peter Merseburger, geboren 1928 in Zeitz, studierte Germanistik, Geschichte und Soziologie. Er war von 1960 bis 1965 Redakteur und Korrespondent des Hamburger Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", moderierte ab 1967 die Fernsehsendung ‘Panorama’ und wurde 1969 TV-Chefredakteur des Norddeutschen Rundfunks. 1977 ging Peter Merseburger als ARD-Korrespondent und Studioleiter nach Washington. Weitere Stationen waren Ost-Berlin und London. Buchveröffentlichungen u. a. "Die unberechenbare Vormacht", "Grenzgänger - Innenansichten der anderen Republik", die Kurt-Schumacher-Biographie "Der schwierige Deutsche" und "Mythos Weimar". Zuletzt erschienen ist die Biographie "Willy Brandt 1913 - 1992". Peter Merseburger lebt in Berlin und Südfrankreich.
Dahinter verbirgt sich die Auseinandersetzung um die so genannte Finalität Europas, um die Grenzen der Europäischen Union. Die EU, schrieb der Franzose Régis Debray, habe mit dem Ende des Kalten Krieges ihre auf Konfrontation beruhenden Grenzen verloren – wo es aber keine Grenzen gibt, gebe es "nichts Geheiligtes, keine Notwendigkeit, keinen gemeinsamen Glauben noch das Gefühl der Zugehörigkeit". Seine These: "Wenn Europa den Mut hätte, Gegner zu haben, würde es anfangen, zu existieren".
Das klingt reichlich absolut, dem einen oder anderen mag es philosophisch gestelzt vorkommen - und doch steckt eine Menge Wahrheit darin. Wer die geographische Begrenzung Europas will, der möchte letztlich, dass es Identität und politische Gestalt gewinnt. Wer stattdessen seine Entgrenzung will, sieht es eher als lockeren Verbund mehr oder weniger nationaler Volkswirtschaften in Form einer riesigen Freihandelszone. Nicht zufällig sind die Gegner eines begrenzten Europa auch diejenigen, die am Verbissensten an ihrer nationalen Souveränität festhalten – die Briten und einige Skandinavier, unter den neu hinzugekommenen Mitgliedern vor allem die Polen und die Tschechen.
Viele Osteuropäer möchten das beste beider Welten – voll stimmberechtigte Mitglieder der EU und zugleich im Vollbesitz ihrer nach der Wende wieder gewonnen Souveränität zu sein – dass beides auf Dauer miteinander nicht vereinbar ist, zählt zu den schwierigen Lernprozessen, die Polen und Tschechen noch vor sich haben. Polens Blick ist ohnehin auf die Ukraine gerichtet – ist sie, wenn es nach Warschau Vorstellungen geht, wenn nicht morgen, dann übermorgen der nächste Beitrittskandidat? Nur: Logisch ist Kaczynskis Position nicht. Er blockiert die Verhandlungen der EU mit Russland, weil dieses Fleischimporte aus Polen boykottiert und nimmt die Europäer damit praktisch in Geiselhaft. Wenn jedoch die Türken zyprische Waren boykottieren und die Zypern und Griechen nach Sanktionen rufen, kümmert ihn das nicht einen deut. Europäische Solidarität sieht anders aus.
Es wird keine Jubelfeiern geben, wenn am 1. Januar Rumänien und Bulgarien der EU beitreten, denn so gewiß sie zu einem begrenzten Europa gehören, wie übrigens auch die Balkanstaaten, so umstritten ist doch, ob sie bereits über alle jene Qualifikationen verfügen, die für die Clubmitgliedschaft unerlässlich sind. Mit ihrem Beitritt ist die Aufnahmefähigkeit der EU vorerst erschöpft, zumal sie mit noch mehr Mitgliedern immer schwieriger zu steuern ist. Je größer die Überdehnung der EU, umso wichtiger wird deshalb der Versuch, eine europäische Koalition der Willigen zu schaffen, die sich zusammentun, um dem alten Ideal der Europäer der ersten Stunde schrittweise näher zu kommen: einem politisch integrierten Europa. Vielleicht weist Belgiens Ministerpräsident Guy Verhofstadt den Weg, wenn er von einer Organisation europäischer Staaten spricht, die sich zusammentun, um eine gemeinsame Finanz- und Steuerpolitik zu entwickeln, diplomatisch geeint nach Außen aufzutreten und eine gemeinsame europäische Armee zu schaffen.
Wie immer man es nennen mag - Kerneuropa, Avantgarde oder Pioniergruppe - Verhofstadt denkt, dass aus seiner Koalition der Willigen, die er vor allem aus den Ländern der Eurozone rekrutieren möchte, ein europäischer Bundesstaat entstehen könnte, um den herum sich dann die Mitglieder restlichen EU gruppieren.
Ist alles nur ein schöner Traum? Wer geht voran? Das sind berechtigte Fragen, denn wo immer man hinschaut, regieren Vagheit, Ambivalenz oder nationale Nabelschau, dazu leiden einige Staaten, auf die es bei einem Anlauf zu diesem Kerneuropa ankäme, an politisch instabilen Verhältnissen. Wie lange sich ein Proeuropäer wie Prodi mit seiner zusammen gewürfelten Linkskoalition in Italien halten kann, steht in den Sternen. Frankreich geht in ein Wahljahr – mit einer sozialistischen Kandidatin, die außenpolitisch nicht die geringste Erfahrung hat, wie ihr Desaster im Libanon jüngst zeigte; zudem ist ihre Partei in Europafragen zerrissen, wie das Ja und Nein führender Sozialisten in der Frage der europäischen Verfassung bewiesen hat. Und Berlin? Es schiene noch der Verlässlichste im europäischen Bunde, wenn die Große Koalition innerlich in der Frage des Türkeibeitritts nicht zerstritten wäre.
Es fehlt an der Stimme und der Kraft, die Visionäres in Realität umzuwandeln verstünde. Oder fehlt es vielleicht nur an der Not, die zum Handeln zwingt?
Peter Merseburger, geboren 1928 in Zeitz, studierte Germanistik, Geschichte und Soziologie. Er war von 1960 bis 1965 Redakteur und Korrespondent des Hamburger Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", moderierte ab 1967 die Fernsehsendung ‘Panorama’ und wurde 1969 TV-Chefredakteur des Norddeutschen Rundfunks. 1977 ging Peter Merseburger als ARD-Korrespondent und Studioleiter nach Washington. Weitere Stationen waren Ost-Berlin und London. Buchveröffentlichungen u. a. "Die unberechenbare Vormacht", "Grenzgänger - Innenansichten der anderen Republik", die Kurt-Schumacher-Biographie "Der schwierige Deutsche" und "Mythos Weimar". Zuletzt erschienen ist die Biographie "Willy Brandt 1913 - 1992". Peter Merseburger lebt in Berlin und Südfrankreich.