Quertreiber im Föderalismus

Jeder Bayer ist eine Insel

Katholiken ziehen mit ihren Trachten, bunt bestickten Fahnen und prächtig geschmückten Altären anlässlich der Fronleichnamsprozession durch Garmisch-Partenkirchen
Traditionen werden in Bayern sehr geschätzt - vor allem, wenn sie aus Bayern kommen. © dpa / Peter Kneffel
Von Alexander Pschera |
Machen wir’s kurz: Deutschland besteht aus 15 Bundesländern plus 1 - und das ist natürlich Bayern! Spätestens seit der Niederlage des Betreuungsgeldes dürfte sicher sein: Einer tanzt immer aus der Reihe. Aber warum ist das so? Weil die Bayern zu gerne den ewigen Outlaw spielen, meint Alexander Pschera.
Immer wenn in Berlin oder Brüssel etwas beschlossen wird, ertönt aus den Gebirgstälern zwischen Watzmann und Zugspitze ein kerniges: "Nein, nicht bei uns!" Ob es um Kopftücher im Staatsdienst, die Zuwanderungsdebatte (O-Ton Seehofer: "Wer betrügt, der fliegt"), die Windenergie oder EU-Hilfen angeht – in Bayern hat das Ausloten föderaler Spielräume längst die Form einer Fundamentalopposition angenommen. Sie ist unter dem Begriff "bayerischer Sonderweg" ins deutsche Vokabular eingegangen.
Man muss daran erinnern, dass dieses Rebellentum eine juristische Grundlage hat. Bayern hat das Grundgesetz der Bundesrepublik nie ratifiziert – mit dem Argument, der Bund bekäme damit zu viel Rechte gegenüber den Ländern. Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Noch 1999, anlässlich des 50-jährigen Verfassungsjubiläums, scheiterte im Bayerischen Landtag eine Petition, mit der eine nachträgliche Anerkennung erreicht werden sollte. Wenn bayerische Politiker sich systematisch querstellen, dann hat das zunächst einmal mit politischem Taktieren zu tun. Aber eben nicht nur.
Tiefreichende Kultur des Widerspruchs
Vielmehr wurzelt der "bayerische Sonderweg" in einer tiefreichenden Kultur des Widerspruchs, dessen Grundbedürfnis die Abgrenzung ist und dessen Phänotyp man mit dem Begriff "Grantlertum" nur unzureichend beschreibt. Ich lebe zum Beispiel in einem wunderschönen oberbayerischen Dorf, das zweigeteilt ist wie Korea. Und zwar in Ober- und Untertrachtlfing. (Suchen Sie es nicht auf der Landkarte, die Namen sind frei erfunden, ich möchte dort schließlich weiter leben).
In Hessen oder Sachsen wäre diese Teilung nicht mehr als eine geographische Tatsachenbeschreibung. Nicht so bei uns. In Obertrachtlfing gab es nach dem Krieg eine Flurbereinigung. Die Grundstücksgrenzen sind heute wie mit dem Lineal gezogen. In Untertrachtlfing gab es sie nicht. Hier wurden die Grenzen von 1945 verteidigt.
In Obertrachtlfing gibt es zwei Kirchen, in Untertrachtlfing nur eine. Natürlich gehen die Bewohner von Untertrachtlfing, wenn irgend möglich, in ihre eigene Kirche. Auch politisch herrscht Sezession: In Ober... wählt man die CSU, in Unter... die Bayernpartei, und zwar zweistellig. Ich bin kein Dialektforscher, aber das "R" scheint mir in Unter... eine Spur weiter hinten im Rachen gerollt zu werden als in Ober... und so weiter.
Bayerische Nein-Sager genießen Status letzter Outlaws
Wer jetzt einwendet, dieses Separatistentum sei ein ländliches Phänomen, dem möchte ich eine Anekdote aus der Landeshauptstadt entgegenhalten. Regelmäßig werden U-Bahnstationen in einem Münchner Stadtteil mit Stickern von 1860 München gepflastert. Sie empfangen den Reisenden mit einem herzlichen "Willkommen in Giesing, Ihr A...löcher". Und damit sind nicht nur die "roten" Bayern gemeint, sondern uneingeschränkt alle.
Trotz dieser überaus herzlichen Empfangskultur gibt es in Bayern jährlich 84 Millionen Übernachtungen. Und die Eskapaden eines Dobrindt oder Seehofer stoßen bei der Bevölkerung auf Toleranz, wenn nicht sogar auf heimliche Bewunderung. Warum? Vielleicht, weil in einer Welt aus Ja-Sagern die Nein-Sager so etwas wie letzten Outlaws sind. Und so freuen wir uns schon jetzt auf den nächsten Einspruch aus Bayern.
Die Geduld der bundesrepublikanischen Restbevölkerung ist wahrscheinlich erst dann erschöpft, wenn die kapuzentragende Bruderschaft der königstreuen Guglmänner vor der Staatskanzlei mit der bayerischen Flagge für eine Abspaltung des Freistaats demonstriert.
Alexander Pschera, geboren in Heidelberg, Studium und Promotion der Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft. Zahlreiche Veröffentlichungen in Hörfunk, Zeitungen und Zeitschriften, Buchautor bei Matthes & Seitz, lebt als Autor, Publizist und Kommunikationsberater in der Nähe von München.


Alexander Pschera
Alexander Pschera© privat
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