"Querdenken" in Baden-Württemberg
Eine Studie stellt Zusammenhänge zwischen Anthroposophie und Coronakritik fest. © picture alliance / dpa
Warum es sich im Ländle ballt
05:52 Minuten
Stuttgart war der Ausgangspunkt der "Querdenken"-Demos. Doch auch im Rest Baden-Württembergs wird oft ähnlich gedacht. Eine Studie fragt nach Verbindungen zur starken Anthroposophen-Szene.
Vergangenes Jahr in Konstanz am Bodensee. Ein blonder Junge steht auf der Bühne einer "Querdenken"-Demonstration und erzählt eine Anekdote. Er stellt sich als Waldorfschüler vor.
"Da war ich im Biosupermarkt, und ich trage nie eine Maske und habe auch da keine aufgehabt. Plötzlich hat mich eine Frau gefragt: Warum hast denn du keine Maske auf? Ja, wollen Sie mein Gesicht nicht sehen?“
Er habe schon auf einigen "Querdenken"-Demos gesprochen, erzählt er. Und steht damit in der Waldorfszene Baden-Württembergs nicht allein da.
Klare Zusammenhänge weist eine aktuelle Studie nach. Nadin Frei und Oliver Nachtwey von der Universität Basel haben dafür auch auf der Konstanzer Demo Feldforschung betrieben.
Anthroposophie und Coronakritik
"Wir haben eine starke Wahlverwandtschaft zwischen Anthroposophie und Coronakritik ausmachen können", sagt Nadin Frei. Die Soziologin hat die "Quellen des Querdenkertums" in Baden-Württemberg mit ihrem Kollegen im Auftrag der Grünen-nahen Heinrich Böll-Stiftung untersucht.
Stuttgart war im April letzten Jahres Ursprung der bald schon radikalisierten Proteste gegen die Pandemiepolitik. In der Studie werden viele Verbindungen zum anthroposophischen Milieu verdeutlicht.
"Diese Eingeweihten, die über eine höhere Wahrheit verfügen. Anthroposophie und Esoterik verstehen sich auch als oppositionelles Wissen. Auch gegen eine Mehrheit recht haben. Diese allumfassenden Erklärungsmuster. Alles hängt mit allem zusammen. Es gibt keinen Zufall. Es ist auch eine Ablehnung des Konventionellen und des Mainstream", sagt Frei.
Die erste Waldorfschule
Die Studie betont aber auch: Der Weg führt nicht automatisch von der Waldorfschule auf die "Querdenken"-Demo. Allerdings: Baden-Württemberg hat diesbezüglich eine lange Geschichte. In Stuttgart wurde 1919 die erste Waldorfschule gegründet.
Ein Viertel aller deutschen Waldorfschulen stehen heute in Baden-Württemberg. Eltern aus der "Querdenken"-Szene fänden die aber nicht nur wegen der Pädagogik attraktiv, sondern auch, weil es freie Schulen seien, in denen sie selber die Struktur bestimmen könnten, sagt Frei.
"Tatsächlich haben viele Eltern die Vorstellung, der Staat kommt dort nicht rein. Aber das sind natürlich Schulen, die zu 80 Prozent vom Staat finanziert werden", so Frei.
Die beiden Soziologen haben in rund 20 langen Interviews Menschen aus der "Querdenken"-Szene, Waldorfpädagogen, aber auch Journalisten und politische Berater befragt.
Zusätzlich liefert eine Umfrage von mehr als 1.000 Personen statistische Daten. Teilgenommen haben Menschen aus "Querdenken"-nahen Chats beim Messenger Telegram. Sehr viele waren zum ersten Mal auf einer Demo.
Neben dem anthroposophischen Umfeld sei auch ein starkes alternatives Milieu auszumachen. "Dieses Milieu ist durch ein sehr, sehr großes Institutions- und Autoritätsmisstrauen geprägt, durch ein Staatsmisstrauen", sagt Forscher Nachtwey.
Für die Alternativen sei "schrankenlose Selbstbestimmung und Eigenverantwortung" das Wichtigste, heißt es in der Studie. Und das sei sehr kompatibel mit der Kritik an der Pandemiepolitik.
"Von Solidarität war da eigentlich nie die Rede. Dass man Maskentragen oder sich schützen könnte aus Solidarität", sagt Nachtwey.
Widerspruch als Einschränkung der Meinungsfreiheit
Bei ihren Forderungen nach grenzenloser Meinungsfreiheit gehe es oft um persönliche Bedürfnisbefriedigung. Zu beobachten auch auf der großen "Querdenken"-Demonstration am Bodensee. So versteht ein Demonstrant Widerspruch als Einschränkung seiner Meinungsfreiheit.
"Aber man darf doch wohl noch seine Meinung frei äußern. Und das sehe ich langsam in Gefahr. Ich merke es doch teilweise in meinem beruflichen und privaten Bereich. Dass ich mit meiner Meinung der Outsider bin. Beziehungsweise Anfeindungen bekomme. Was ich doch gar nicht möchte“, sagt der Demonstrant.
Politisch haben sich die Proteste in Baden-Württemberg laut der Studie zunächst deutlich von denen in den ostdeutschen Bundesländern unterschieden. Dort seien sie von Anfang an viel stärker aus der rechten und rechtsextremen Anhängerschaft hervorgegangen. Anders in Baden-Württemberg.
Von links nach rechts
"Das sind viele Leute, die eher von links kommen. Antiautoritär, fast kosmopolitisch sind. Die haben früher links gewählt, sich jetzt aber stark nach rechts bewegt", sagt Nachtwey.
Bundesweit vereint die Szene der starke Hang zu verschwörerischen Erzählungen. Sie wird kleiner, aber aufgeladener. Unabhängig vom Links-rechts-Schema sei das schon bei den Demos in den letzten Pandemiewellen zu beobachten gewesen.
"Da kann sehr schnell eine Radikalisierung stattfinden, da ist auch Gewalt nicht ausgeschlossen", warnt Nachtwey.