Paragraf 175 und Ehe für alle
Queerer Protest mit Polizeischutz: Unter dem Motto „Wir lassen uns nicht vertreiben“ feierten Teilnehmende der CSD-Demo in Eberswalde queeres Leben. © picture alliance/dpa | Annette Riedl
Der anhaltende Kampf um queere Sichtbarkeit

Queere Rechte wurden hart erkämpft. Heute sorgen sich viele vor einem Rückschritt. Denn Hass, Hetze und Gewalt gegen LGBTQI*-Menschen nehmen zu. Ein Blick auf die Geschichte von queerem Leben und Widerstand in Deutschland - damals wie heute.
Der Juni ist traditionell Auftakt der Pride-Saison. In etlichen Städten gehen Menschen für die Rechte der LGBTQI*-Community auf die Straße. Bei Paraden und Protesten demonstrieren sie für mehr Gleichberechtigung, feiern ihre Sichtbarkeit und den Stolz auf ihre queere Identität. Doch die Pride-Paraden, auch als Christopher Street Day (CSD) bekannt, sind das Ergebnis eines langen und mühsamen Weges.
Dass Menschen wegen ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung diskriminiert und verfolgt werden, reicht weit zurück. Die queere Geschichte ist geprägt von Kriminalisierung und Verfolgung – aber auch von Widerstand und einem Kampf um Sichtbarkeit. Heute sind einige dieser Errungenschaften wieder in Gefahr. Selbst im Westen sind Menschen, die sich zur queeren Community zählen, die trans* oder intergeschlechtlich sind, lesbisch, schwul oder bisexuell, wieder zum Feindbild geworden und massiven Anfeindungen ausgesetzt.
Rechtspopulisten und autoritäre Politiker wettern gegen „Gendergaga“, die Zahl queerfeindlicher Straftaten ist hierzulande auf einem neuen Höhepunkt. Ein Überblick über die Geschichte queerer Rechte in Deutschland – vom Kaiserreich bis zur wiedervereinigten Bundesrepublik. Und darüber, wie sie heute bedroht und verteidigt werden.
Inhalt
Der erste Aktivist für Schwulenrechte: Karl Heinrich Ulrichs
In der Nacht zum 28. Juni 1969 wehrten sich die Gäste der New Yorker Schwulenbar „Stonewall Inn“ in der Christopher Street während einer Razzia gegen Polizeiwillkür. Es war ein Meilenstein für den queeren Widerstand und namensgebend für den Christopher Street Day. Für ihre Rechte haben queere Menschen aber schon viel länger gekämpft - vor allem in Deutschland.
Karl Heinrich Ulrichs gilt als der wahrscheinlich erste Aktivist für Schwulenrechte in der westlichen Welt, ein Jurist aus Ostfriesland, geboren 1825. Ein Einzelkämpfer, wie Medizinhistoriker Rainer Herrn sagt. Einer, der sich fast sein gesamtes Leben lang für die Rechte von Homosexuellen einsetzte und als einer der ersten selbst offen schwul lebte. In einer Zeit, in der Repressionen für Homosexuelle zum Alltag gehörten.
Im Jahr 1867 trat Ulrichs auf dem Deutschen Juristentag öffentlich für die Straffreiheit für gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen ein - und stieß mit seiner Forderung auf Empörung. Er machte trotzdem weiter, forschte zu Homosexualität, die er als natürliche Veranlagung ansah, publizierte Schriften und vernetzte sich mit Ärzten, Psychiatern und Gerichtsmedizinern. Allerdings vergebens. Resigniert über „die Erfolglosigkeit seiner ganzen Bemühungen“, wie Herrn sagt, ging Ulrich 1880 ins Exil nach Italien.
Die Reichsgründung und der Paragraf 175
Dabei sah es für einen Moment so aus, als bewege sich etwas. Als sich Ende der 1860er Jahre die Gründung des Deutschen Reiches abzeichnete, begannen auch die Diskussionen über das neue geplante Strafrecht. Zuvor galten in den deutschen Einzelstaaten verschiedene Strafgesetze mit unterschiedlichen Positionen. Während zum Beispiel in Bayern Homosexualität seit 1813 straffrei war, drohten Homosexuellen in Preußen bis zu vier Jahre Zuchthaus und der Entzug des Wahlrechts.
An der Debatte waren neben Politikern auch Mediziner beteiligt – und die plädierten für die Straffreiheit gleichgeschlechtlicher Handlungen. Dennoch wurde Sex zwischen Männern im Kaiserreich unter Strafe gestellt, festgeschrieben im berüchtigten Paragraf 175.
Pionier der Sexualforschung: Magnus Hirschfeld
Ende des 19. Jahrhunderts tritt in Deutschland ein weiterer Akteur auf die Bühne: Magnus Hirschfeld, geboren 1868 im preußischen Kolberg. Er war Arzt und Sexualwissenschaftler, jüdisch und schwul, und initiierte im Jahr 1897 die weltweit erste Homosexuellen-Organisation, das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee. Ihr Ziel war die Aufklärung über Homosexualität und die Abschaffung von Paragraf 175.
In Anlehnung an Ulrichs Ansatz entwickelte Hirschfeld die sogenannte Zwischenstufentheorie, eine Art Stufenmodell der Geschlechter. Diese besage, erklärt Medizinhistoriker Herrn, „dass jeder Mensch eine sexuelle Zwischenstufe ist, weil jeder Mensch eine Mischung aus männlichen und weiblichen Eigenschaften ist.“ Homosexuelle, inter- und transgeschlechtliche Menschen sind demnach „eigentlich nur besondere Erscheinungsformen dieser Mischgeschlechtlichkeit“.
Nach dem Ersten Weltkrieg gründete Hirschfeld in Berlin das Institut für Sexualwissenschaft. Dort leisteten er und seine Mitarbeiter etwa kostenlose Sexualaufklärung, behandelten Geschlechtskrankheiten und kämpften für einen liberalen Umgang mit Sexualität. Hirschfeld setzte sich zudem stark für geschlechtsangleichende Behandlungen ein. Allerdings gibt es rückblickend auch Kritik an seinem Schaffen, einige frühe Experimente gelten heute als ethisch fragwürdig.
In der Weimarer Zeit wird aus einer „elitären Bewegung der Akademiker“ eine "breite Bewegung", sagt Herrn. Queere Menschen beginnen, sich zu vernetzen. Es entstehen Homosexuellen-Zeitschriften und Organisationen wie der Bund für Menschenrechte. Gleichwohl bleiben laut dem Medizinhistoriker auch in den Goldenen 20ern die Möglichkeiten begrenzt, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt auszuleben.
Verfolgung im Nationalsozialismus - und nach 1945
Mit dem Erstarken der Nationalsozialisten wächst der Druck auf queeres Leben in Deutschland massiv. Hirschfeld wird zum Feindbild erklärt. Seine Arbeit und mit ihr Deutschlands führende Rolle auf dem Fachgebiet der Sexualwissenschaft fanden im Mai 1933 ein jähes Ende: Sein Institut wurde geschlossen, die Bücher wurden symbolisch auf dem Berliner Opernplatz verbrannt. Hirschfeld selbst floh ins Exil, wo er 1935 starb.
Homosexuelle Menschen, vor allem Männer, wurden während der NS-Zeit systematisch kriminalisiert und verfolgt. Allein der Verdacht reichte aus, um sie zu inhaftieren, zu kastrieren und im Konzentrationslager zu ermorden. Auf Grundlage des Paragrafen 175, den die Nationalsozialisten erheblich verschärften, wurden schätzungsweise 50.000 schwule Männer verurteilt. Herrn sagt: „Die gesamte schwule und lesbische Infrastruktur stand jetzt unter dem Verdacht der Sippenverderbnis.“
Die strafrechtliche Verfolgung queerer Menschen dauerte allerdings auch nach dem NS-Regime an. Für sie habe es keine „Stunde null“ gegeben, sagt Martin Lücke von der Freien Universität Berlin. In der BRD blieb der Paragraf 175 bestehen. Bei den Frankfurter Homosexuellen-Prozessen Mitte der 1950er Jahre wurde innerhalb von zehn Monaten gegen mehr als 200 Männer ermittelt, die Hälfte wurde verhaftet, mehrere Suizide werden mit den Ermittlungen in Verbindung gebracht.
Die queere Szene, sagt Lücke, war „im gesellschaftlichen Klima der frühen Bundesrepublik sehr unterdrückt und im Verborgenen“. Ähnlich bewertet der Geschichtsdidaktiker die Situation in der DDR. Dort wurde der Paragraf 175 zwar nicht übernommen, doch sichtbares queeres Leben sei ebenfalls kaum möglich gewesen. Das gesellschaftliche Leitbild im kommunistischen Staat sei „keinesfalls queerfreundlich“ gewesen.
Von der Strafrechtsreform bis zur Ehe für alle
Erst in den 1960er Jahren nahm die Debatte um queere Rechte in Deutschland wieder Fahrt auf, angetrieben von der Studentenbewegung, die die Abschaffung des Paragraf 175 forderte. Im Juni 1969 verabschiedete die Große Koalition unter Kurt Georg Kiesinger die erste große Strafrechtsreform - der umstrittene Paragraf wurde erheblich abgeschwächt. Homosexualität war nun keine Straftat mehr, wenn die Männer älter als 21 Jahre waren.
Vollständig abgeschafft wurde er jedoch erst 1994. Seitdem verabschiedete der Bundestag mehrere Gesetze, um die Rechte queerer Menschen zu stärken: Seit 2001 können sich homosexuelle Paare als Lebenspartnerschaft eintragen lassen und 2006 trat mit dem sogenannten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz das erste umfassende Gesetz zum Schutz gegen jede Form von Diskriminierung im Alltag in Kraft.
Im Juni 2017 beschloss das Parlament die Ehe für alle, seit Ende 2018 können Menschen die dritte Geschlechtsoption "divers" angeben und 2024 wurde das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz beschlossen, das die Hürden für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen senken sollte, ihren Geschlechtseintrag zu ändern.
Hass, Hetze und die Sorge vor dem Rückschritt
Die Geschichte queerer Rechte in Deutschland bewertet Historiker Martin Lücke zwar grundsätzlich als Erfolg, gleichzeitig mahnt er jedoch zur Vorsicht: Vieles sei „noch nicht hinreichend institutionell abgesichert“. So will etwa die Bundesregierung das Selbstbestimmungsgesetz bis spätestens Sommer 2026 einer Evaluierung unterziehen. „Es ist gar nicht ausgenommen, dass Gesetze wieder zurückgenommen werden“, sagt Lücke und warnt vor einer „antiqueeren Rethorik“.
Auch in der LGBTQI*-Community wächst die Sorge vor einer Rolle rückwärts. Lesbische, schwule und queere Menschen sehen sich nach Einschätzung ihres Interessensverbands immer mehr Anfeindungen und Übergriffen ausgesetzt. „Hass, Hetze und Gewalt gegen uns haben einen neuen traurigen Höhepunkt erreicht“, sagte Andre Lehmann vom Verband Queere Vielfalt. Ein Lagebericht vom Bundeskriminalamt und Innenministerium bestätigt diese Einschätzung: Demnach hat sich die Zahl der Straftaten im Bereich „Sexuelle Orientierung“ und „Geschlechtsbezogene Diversität“ seit 2010 nahezu verzehnfacht.
Dabei zeigten die Zahlen nicht das ganze Ausmaß, kritisiert Lehmann. „Immer noch bleiben ungefähr 90 Prozent der gegen queere Menschen gerichteten Straftaten im Dunkeln." Er fordert eine einheitliche Erfassung durch die Länder und eine bundesweite Meldestelle.
Drohungen gegen queere Demos und Feste
Zur Zielscheibe werden besonders LGBTQI*-Events wie der CSD. So gibt es in Deutschland zwar mehr queere Paraden, Demos und Feste als je zuvor, gleichzeitig wächst die Angst vor Übergriffen durch rechte Gruppen. Deren Mitglieder fallen besonders durch ihr junges Alter auf. Sie heißen "Jung und Stark", "Der Störtrupp" oder "Deutsche Jugend Voran", auf Plattformen wie Tiktok, Instagram und Youtube werben sie um Mitglieder. Das BKA spricht von mehreren hundert Anhängerinnen und Anhängern, die teilweise auch vor schweren Gewalttaten nicht zurückschreckten.
Angesichts dieser Entwicklungen zeigen sich CSD-Mitglieder alarmiert. Kai Bölle vom Verein CSD Deutschland spricht von Bedrohungen im Netz und Gegenaktionen junger Rechtsextremer. Er warnt, die Anfeindungen hätten „eine neue Qualität“. Ähnlich bewertet Falko Jentsch die Situation, er ist Sprecher des CSD Sachsen-Anhalt und sagt, vor allem im ländlichen Raum gerieten queere Veranstaltungen massiv unter Druck.
Forderung nach Solidarität und Bekenntnis
Dass vor allem Jugendgruppen mit CSD-Angriffen auffallen, ist laut Kulturanthropologe und Rechtsextremismusforscher Patrick Wielowiejski damit zu erklären, dass solche Events für sie ein "relativ leichter Einstieg" in ihren Aktivismus sind, quasi ein leichtes Ziel. Zudem sei Queerfeindlichkeit schon immer zentraler Bestandteil der Ideologie extremer Rechter.
Rechtspopulistische Kräfte in Demokratien, ebenso wie Autokraten, empfänden queere Aktivistinnen und Aktivisten als störend, sagt auch Historiker Lücke. Eine vielfältige Gesellschaft, einen reflektierten Umgang mit Geschlechterordnungen, Selbstbestimmungsrechte, die sich auch auf Sexualität und Geschlecht beziehen – all das lehnten sie ab. Er mahnt, beim Kampf um queere Rechte nicht nachzulassen. Erfolge blieben nur, wenn man sich auch weiter für das Erreichte einsetze.
Auch Wielowiejski warnt vor einer „Entsolidarisierung“. Es gehe bei Angriffen von Neonazis auf queere Veranstaltungen darum, ein „Klima der Angst“ zu schüren und bürgerliche Kräfte dazu zu bewegen, sich zu entsolidarisieren. Von der Politik fordert er ein klares Bekenntnis dazu, „dass alle Queers ein Recht haben auf selbstbestimmtes Leben“.
irs