Qualifikation als Schicksalsfrage

Im Gespräch mit Ernst Rommeney und Ulrich Ziegler |
Der Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Hanns-Eberhard Schleyer, hat seine Forderung nach einer nationalen Bildungsinitiative erneuert. Um mittel- und langfristig nicht in wirtschaftliche und soziale Probleme zu geraten, sei ein ganzheitlicherer Bildungs- und Innovationsansatz vonnöten, sagte Schleyer.
Deutschlandradio Kultur: Die Große Koalition findet keinen gemeinsamen Nenner. Sie kann sich auf kein Mindestlohnkonzept einigen. Ist Ihnen eigentlich diese Blockade recht, so nach dem Motto: lieber gar keine Entscheidung als eine falsche?

Hanns-Eberhard Schleyer: Sicherlich ist mir diese Situation insofern recht, als wir uns immer gegen einen gesetzlichen Mindestlohn, um den es hier geht, ausgesprochen haben. Wir glauben nicht, dass er hilft. Er wird nicht zu mehr Arbeit, auch nicht zu mehr individueller Befriedigung führen, sondern alles spricht dafür, dass wir dann weniger Arbeitsplätze erreichen werden. Wir haben auf der anderen Seite das Instrumentarium des tarifvertraglichen Mindestlohns. Davon ist in der Vergangenheit Gebrauch gemacht worden. Das ist letztlich auch der Platz, wo solche Fragen hingehören. Es ist letztlich ein Armutszeugnis der Gewerkschaften, die ein Teil dieser Tarifautonomie sind, dass sie sich jetzt so eindeutig für einen gesetzlichen Mindestlohn ausgesprochen haben.

Deutschlandradio Kultur: Aber es gibt ja auch die Arbeitgeber. Arbeitgeber wissen, dass sie in bestimmten Bereichen keine Tarifverträge abschließen. Wer kümmert sich dort um die Arbeitnehmer?

Schleyer: Ich glaube, dass die Frage eines gesetzlichen Mindestlohns auch in diesen Fällen nicht helfen wird. Wir haben eben in Deutschland sehr unterschiedliche Regionen, sehr unterschiedliche Arbeitsbedingungen. Wir wissen von vielen Fällen, wo es einem Unternehmer einfach nicht möglich ist, über eine bestimmte Höhe hinaus Löhne zu bezahlen. Wenn er dazu gezwungen sein würde, dann würde das konsequenterweise mit dem Verlust von Arbeitsplätzen verbunden sein.

Eines der Probleme in diesem Zusammenhang, auch wenn wir das nur mittelfristig werden lösen können, liegt in der Qualifikation der Betroffenen. Wir haben heute schon Fachkräftemangel in vielen Regionen, in vielen Branchen. Wenn es uns gelingt, ganz allgemein das Qualifizierungsniveau zu verbessern, dann wird es auch einfacher sein, Arbeitsplätze mit mehr als auskömmlichen Löhnen zu schaffen.

Deutschlandradio Kultur: Wie viel sind Sie eigentlich bereit für einen Haarschnitt zu bezahlen? 3,58 Euro ist doch eindeutig zu wenig. Damit können die Leute eigentlich nicht ordentlich leben, ihre Familien ernähren schon gar nicht.

Schleyer: Das ist sicherlich aus der Sicht der Betroffenen verständlich. Wir haben aber gerade Beispiele aus Friseurläden, wo nach Offenlegung der Kalkulation eben deutlich wird, dass nicht mehr gezahlt werden kann. Wobei man gerade bei den Friseuren mit einbeziehen muss, dass dieser Tariflohn nur das eine ist. In aller Regel sind sie am Umsatz beteiligt und es kommt auch noch ein Trinkgeld hinzu. Eine solche Gesamtrechnung muss man dann auch aufmachen dürfen.

Deutschlandradio Kultur: Aber andererseits, wenn sich der Verbraucher anguckt, welche Rechnungen er bekommt in einer Kfz-Werkstatt, beim Gärtner oder Tischler: der Arbeitslohnanteil ist sehr hoch. Da kann doch ein Mindestlohn kein Problem im Handwerk sein?

Schleyer: Ich glaube nicht, dass das generell ein Problem für den Handwerksbereich mit seinen in der Regel hochqualifizierten Mitarbeiterschaft ist, aber wir haben eben nicht nur Handwerk in Deutschland. Von daher ist es in vielen Bereichen durchaus ein Problem, Löhne bezahlen zu müssen, die einfach in die Unternehmerkalkulation so nicht einfließen können, weil sie am Markt nicht durchzusetzen sind.

Noch einmal: Tarifautonomie ist etwas, was wir hochhalten. Wenn die Tarifvertragspartner der Auffassung sind, für einzelne Branchen in bestimmten Regionen etwas zu vereinbaren, dann ist das der richtige Weg. Aber bitte nicht über einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn.

Deutschlandradio Kultur: Dahinter steckt politischer Sprengstoff. Das zeigen zum Beispiel die Wahlen in Bremen. Die Linkspartei ist in das westliche Bundesland eingezogen. Die Grünen haben stark zugelegt. Das Problem ist, dass viele das Gefühl haben, sozial abgehängt zu werden. Das kann möglicherweise auf die Dauer auch politisch gefährlich werden. Wer muss die Verantwortung übernehmen, allein die Politik?

Schleyer: Nein, wir reden ja heute von einer gemeinsamen sozialen Verantwortung. Und ich sehe durchaus diese Stimmungslage, die aber sicherlich auch etwas damit zu tun hat, dass wir über viele Jahre in Deutschland eine Rezession hatten, nicht zuletzt mit dramatischen Arbeitsplatzverlusten verbunden. Allein im Handwerk haben in den letzten sieben Jahren etwa 1,7 Millionen Menschen ihre Beschäftigung verloren. Das muss sich ändern. Das ist für mich natürlich eine wesentliche Ursache für diese Situation, in der soziale Spannungen zu erkennen sind. Ich bin eigentlich auch ganz sicher, dass – wenn der Beschäftigungsaufbau anhält - uns gelingen wird, von dieser sozialen Spannung ein Stück wegzukommen.

Im Handwerk im Übrigen wird diese soziale Verantwortung in vielfältiger Weise vorgelebt. Das, was man heute als Corporate Social Responsibility bezeichnet, findet dort statt, nicht nur, indem man versucht die Arbeitsplätze der Mitarbeiter so lange es geht zu halten, sondern auch in vielfältigen Bemühungen, individuellen Bemühungen um seine Mitarbeiter. Ich habe auch den Eindruck, dass wir nach wie vor in Deutschland, im Osten vielleicht ein Stück stärker ausgeprägt als im Westen, eine gewiss Diskrepanz zwischen einer relativen individuellen Zufriedenheit haben und einem ausgeprägten kollektiven Missmut an bestehenden Strukturen. Das passt vielfach nicht zusammen, wenn man sich die tatsächliche Situation vieler Menschen vorstellt. Aber richtig ist auch, wir müssen rasch wirtschaftlichen Erfolg stabilisieren, den wir gegenwärtig haben, und darauf achten, dass mit einer besseren Beschäftigungslage, natürlich auch nicht zuletzt über bessere Qualifikation, sich die Lebensverhältnisse der Menschen verbessern.

Deutschlandradio Kultur: Was machen wir denn nun in der Arbeitsmarktpolitik mit den Langzeitarbeitslosen, die gern einen Job haben wollen, aber keinen bekommen?

Schleyer: Wir müssen nach wie vor darauf achten, das Geld nicht an falscher Stelle einzusetzen. Die Langzeitarbeitslosen werden auch von einem wirtschaftlichen Aufschwung profitieren, zumal dann, wenn sie in bestimmte zielgerichtete Qualifizierungsmaßnahmen eingebunden sind. Wir haben im letzten Jahr mit dem wirtschaftlichen Wachstum über 650.000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen, die nicht zuletzt auch von Langzeitarbeitslosen, noch nicht in ausreichender Zahl, aber eben auch von Langzeitarbeitslosen, besetzt worden sind. Also, ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass grundsätzlich durch mehr Wachstum der notwendige Beschäftigungsaufbau sichergestellt werden muss, der auch den Langzeitarbeitslosen zugute kommt. Und wir werden in ein demographisches Problem zunehmend geraten durch die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland, was dazu führen wird, dass wir mehr auf Ältere, das sind in aller Regel die Langzeitarbeitslosen, zurückgreifen müssen, die ja nicht alle nicht qualifiziert sind. Das wird eine der wesentlichen Antworten auf die Frage sein, was machen wir mit Langzeitarbeitslosen.

Deutschlandradio Kultur: Es geht um die Stabilisierung des Aufschwungs, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Die Bundesagentur für Arbeit hat im Moment Überschüsse. Das heißt, Sie würden sagen, diese nicht in neue Maßnahmen reinstecken, sondern die Beiträge einfach reduzieren, den Leuten wieder zurückgeben?

Schleyer: Wir haben viel zu viele Maßnahmen. Wir haben damals in der Hartz-Kommission als eine Empfehlung, die wir abgegeben haben, gefordert: weg mit den vielfältigen Programmen und Maßnahmen der Bundesagentur, die kaum zu finanzieren sind, die die Bundesagentur von ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich der Vermittlungstätigkeit, abhalten. Ich kann einer Aussage, die sagt, aus 80 Förderprogrammen mache 8, nur zustimmen, vor allem, wenn dann eben die Maßnahmen des zweiten und dritten Arbeitsmarkts mit einbezogen werden.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie wollen doch auch den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung senken. Das heißt, ist es aus Ihrer Sicht besser, statt verschiedenen Arbeitsmarktpolitiken lieber eine Beitragssatzsenkung noch mal durchzusetzen?

Schleyer: Das ist sicherlich besser, zumal aus der Sicht des beschäftigungsintensiven mittelständischen Handwerks. Wir sind der Auffassung, dass man durchaus den derzeitigen Arbeitslosenversicherungsbeitrag von 4,2 Prozent um etwa 0,7 Prozent auf 3,5 Prozent absenken könnte. Das entlastet den Faktor Arbeit. Das schafft zusätzliche Beschäftigungsspielräume. Man geht davon aus, jeder Prozentpunkt alleine sorgt für 100.000 neue Arbeitsplätze. Und es ist aus unserer Sicht auch zu finanzieren. Wir haben das an der Entwicklung des letzten Jahres gesehen. Wir wissen, dass bei 300.000 zusätzlichen Sozialversicherungsbeschäftigungsverhältnissen alleine zwei Milliarden zusätzliche Euro zur Verfügung stehen würden. Wir haben uns darüber hinaus immer dagegen gewehrt, dass der so genannte Aussteuerungsbetrag, also das, was zu zahlen ist, wenn jemand vom Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld II überwechselt, von den Beitragszahlern zu erbringen ist. Also, die gute wirtschaftliche Entwicklung und die Beseitigung gewisser Fehlsteuerungen sollten uns in die Lage versetzen, zum Wohle des Arbeitsmarktes eine Absenkung der Arbeitslosenversicherung herbeizuführen.

Deutschlandradio Kultur: Das ist die Position der FDP und muss ja deshalb nicht falsch sein. Wir dachten eigentlich, Sie wären ein Grüner mit christdemokratischem Hintergrund. Können Sie sich vorstellen, warum?

Schleyer: Das kann ich mir vorstellen, weil das Handwerk sicherlich auch in erheblichem Umfang von Umweltschutzmaßnahmen, wenn ich etwa an das energetische Gebäudesanierungsprogramm denke, profitiert. Deshalb haben wir uns so intensiv schon in den Koalitionsverhandlungen für ein solches Programm eingesetzt. Es erfüllt sozusagen in idealer Weise mehrere Anforderungen. Es hilft der Umwelt. Es hilft dem Handwerk oder anderen mittelständischen Auftraggebern. Es hilft letztlich auch dem Konsumenten, der zumindest mittelfristig an Energiekosten spart. Das ist erfolgreich in jeder Hinsicht. Deshalb würde ich mir wünschen, dass – gerade auch im Hinblick einer europäischen und auf nationaler Ebene umzusetzenden Energieeinsparpolitik – dieses erfolgreiche Programm, das bislang nur für den privaten Wohnungsbau gilt, auch auf den gewerblichen Bau ausgedehnt werden könnte. Hier liegen viele, viele zusätzliche Potenziale. Deshalb ist das eine unserer Erwartungen an die Bundesregierung, dass sie zusammen mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau eine solche Erweiterung auch tatsächlich ermöglicht.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir von Europa reden, dann hört man ja meist im Handwerk die Klage über die osteuropäische, die ausländische Konkurrenz. Warum jammert man so viel? Warum geht man nicht selbst auf den fremden Markt?

Schleyer: Das tut das Handwerk. Es gibt eine Vielzahl von leistungsfähigen Handwerksbetrieben, die – obgleich sie teurer sind als ihre europäische Konkurrenz – sehr erfolgreich in diesen Ländern tätig sind. Wir haben uns, etwa im Rahmen der Dienstleistungsrichtlinie, auch nie dagegen gewehrt, den Zugang zu den europäischen Märkten zu öffnen. Im Gegenteil, wir haben immer gesagt, es gibt eine Reihe von nichttarifären Barrieren, um es einmal so zu formulieren, die den Geschäftsverkehr untereinander – und da muss sich jeder einzelne europäische Staat an die Brust klopfen – erschweren. Also, Zugang ja, ohne Einschränkungen. Wir haben allerdings auch gesagt, es kann auf der anderen Seite nicht sein, dass jemand aus einem Land Dienstleistungen in Deutschland erbringt, die unter Kostengesichtspunkten nach Zuständen im Herkunftsland kalkuliert werden: niedrige Löhne, weitaus geringere Anforderungen an den Arbeitsschutz, keine berufsgenossenschaftlichen Beiträge, all das, was Arbeit in Deutschland so teuer macht. Dann kann ich auch nicht mehr von einem Wettbewerb sprechen. Wenn eine Dienstleistung nur ein Fünftel dessen kostet, was etwa ein deutscher Handwerker gezwungen ist zu nehmen, nicht weil er sich davon einen besonderen Ertrag verspricht, sondern weil er dazu gezwungen ist, dann kann ich nicht mehr von Wettbewerb sprechen. Und das führt auf der anderen Seite zu einem Wettbewerb von Rechtsordnungen auf niedrigstem Niveau. Das kann auch nicht unser Interesse sein.

Deutschlandradio Kultur: Wie kommen wir denn da raus? Freies Europa von Waren- und Dienstleistungen, andererseits Abgrenzung gegenüber jenen, die möglicherweise aus Osteuropa kommen mit niedrigeren Löhnen und schlechterem Arbeitsschutz, was die Arbeit auf dem Bau angeht. Wie wollen Sie das stoppen oder angleichen?

Schleyer: Zunächst einmal wird es – jedenfalls mittel- und langfristig – einen Angleichungsprozess geben. Das haben wir auch bei der westeuropäischen Integration erlebt. Wir sehen es auch heute schon in Ländern wie Polen und der Tschechei. Dort steigen nicht nur die Löhne sehr viel stärker als bei uns, sondern werden auch die Anforderungen, etwa an Arbeitsschutz oder Umweltschutz, immer stärker werden.

Aber wir müssen auf der anderen Seite auch sehen, dass wir zu einigermaßen vergleichbaren Bedingungen in den europäischen Ländern arbeiten können. Das wird im Übrigen auch ein wachsendes Problem für mittel- und osteuropäische Länder werden, die heute schon eine Art Braindrain erleben. Das heißt, dass ihre besten Fachkräfte nach Westeuropa als Dienstleister auswandern, ist auch eine der Konsequenzen eines sich öffnenden Marktes. Es macht aber auf der anderen Seite auch deutlich, wir müssen schon darauf achten, dass sich Strukturen in Europa annähern. Dass sie sich einigermaßen vernünftig annähern können, dazu bedarf es aus unserer Sicht gewisser Übergangsfristen. Ich sage allerdings genauso deutlich: Wenn diese Übergangsfristen abgelaufen sind, dann muss das gelten, was die europäische Idee ausmacht, nämlich der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen und auch Personen.

Deutschlandradio Kultur: Dem Handwerk geht es ja derzeit so gut wie selten in der Vergangenheit. Insbesondere den industrienahen Dienstleistern geht es so gut, dass sie Fachleute und Lehrlinge suchen. Haben Sie da versäumt, sich um den Nachwuchs zu kümmern?

Schleyer: Die Ausbildungszahlen der letzten Jahre machen deutlich, dass auch in ganz schwierigen wirtschaftlichen Zeiten das Handwerk immer eine besonders hohe, unverändert hohe Ausbildungsquote von zehn Prozent gehalten hat. Das macht schon deutlich, dass unsere Unternehmer wissen, was sie an einem qualifizierten Nachwuchs haben. Wir haben allerdings auch die Erfahrung gemacht, dass doch zu viele junge Leute nicht ausbildungsfähig oder ausbildungswillig sind. Es sind ja nicht wir, sondern es sind die Bildungsforscher, die uns sagen, dass mittlerweile zehn Prozent eines Altersjahrgangs die Schule ohne Abschluss verlassen, dass ein Viertel eines solchen Jahrgangs des Lesens, Rechnens und Schreibens nicht mehr im notwendigen Umfang mächtig sind. Und das sind auch die Erfahrungen, die viele Ausbildungsbetriebe in den letzten Jahren gemacht haben, dass es immer schwieriger ist, für immer komplexere Ausbildungsberufe junge Leute zu finden, die die notwendigen Fähigkeiten und Voraussetzungen mitbringen.

Ich glaube, dass das überhaupt, wenn man so will, eine Schicksalsfrage unseres Landes ist und werden wird. Wenn es uns nicht gelingt, einen ganz anderen, einen ganzheitlicheren Bildungs- und Innovationsansatz zu finden, dann werden wir in wirkliche wirtschaftliche und soziale Probleme mittel- und langfristig geraten. Wir haben unsere Köpfe und Hände, aber wir werden im internationalen Wettbewerb nur bestehen können, wenn wir auch so gut sind, das heißt, so gute Produkte und Dienstleistungen anbieten können, wie wir teuer sind, nämlich wie wir aufgrund unserer Kostenstrukturen dafür verlangen müssen. Deshalb plädieren wir für eine nationale Bildungsinitiative, die sozusagen in unterschiedlichen Ansätzen jetzt langsam sichtbar wird, von uns stark gefordert und auch begleitet wird. Das geht in der Familienpolitik los. Das setzt sich über die Vorschulzeit fort. Wir unterstützen sehr die Überlegungen, Kinderbetreuung quantitativ und qualitativ nachhaltig zu verbessern. Ich persönlich glaube, dass es wichtig wäre, ein verpflichtendes Vorschuljahr einzuführen. Denn wir wissen ganz generell, dass es kaum eine Phase im Leben eines Menschen gibt, die so wichtig für die intellektuellen Fähigkeiten, für soziale und kommunikative Kompetenz ist, wie eben die frühkindliche Phase. Und wir müssen sicherlich mehr tun im Bereich unseres allgemeinbildenden Schulsystems und wir sind gerade dabei, in einem Innovationskreis bei Frau Schavan auch über die Modernisierung der beruflichen Bildung zu reden. Aber das gehört für uns alles zusammen. So wenig, wie Betriebe das kompensieren können, was es an Defiziten in Schulen gibt, können Schulen nur unzureichend kompensieren, was Elternhäuser, wenn es etwa um die Sprachbildung ihrer Kinder geht, versäumt haben. Insofern - ein ganzheitlicher Ansatz im Rahmen einer in sich geschlosseneren Familien- und Bildungspolitik zur Sicherung des Standorts Deutschland!

Deutschlandradio Kultur: Gibt es zunehmend Betriebe, die sagen, Hauptschüler wollen wir mit dem, was sie im Moment mitbringen, gar nicht mehr haben, wenn wir Lehrlinge suchen? Zweite Frage: Schaffen wir die Ausbildungslücke zu schließen in diesem Jahr?

Schleyer: Es gibt aus verständlichen Gründen Betriebe, die sagen, die jungen Leute, die sich bei uns bewerben, werden nicht in der Lage sein, eine anspruchsvolle Ausbildung erfolgreich abzuschließen, und werden sie dann auch aus einer gewissen Verantwortung den jungen Menschen gegenüber auch nicht ausbilden. Deshalb ist es so wichtig, die Voraussetzungen der Ausbildungsfähigkeit entscheidend zu verbessern.

Wir werden in diesem Jahr, wie im vergangenen Jahr, das, was aus den Schulen in berufliche Ausbildung drängt, unterbringen können. Wir werden jedem Ausbildungsfähigen und Ausbildungswilligen einen Ausbildungsplatz anbieten können. Wir haben im letzten Jahr knapp vier Prozent zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen. Wir sind zum Stichtag 30.4. diesen Jahres in der Lage, mit über 25.000 Ausbildungsplätzen 3000 Ausbildungsplätze mehr vorzuhalten als das im vergangenen Jahr der Fall gewesen ist. Das sind immerhin 13 Prozent. Das wird sich nicht bis zum Jahresende durchhalten lassen, aber es zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind, was natürlich etwas mit der wirtschaftlichen Entwicklung, aber natürlich auch mit der demographischen Perspektive zu tun hat. Die Betriebe wissen, sie müssen jetzt ausbilden, um die Fachkräfte der Zukunft zu haben.

Und wir haben drittens eine viel zu große Zahl von so genannten "Altbewerbern". Das sind junge Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen sich seit Jahren vergeblich um einen Ausbildungsplatz bemühen. Das sind nicht nur, aber eben auch Problemfälle, Fälle etwa, die eine Ausbildung aus unterschiedlichen Gründen abgebrochen haben, aber über Teilqualifikationen verfügen. Das ist eine doch beträchtliche Zahl zwischen 50- und 70.000 jungen Menschen, für die wir jetzt ein Programm entwickelt haben, das sie in ein Beschäftigungsverhältnis bringen soll, wo es aber bestimmte Qualifizierungselemente geben wird, mit dem Ziel, sie nach Möglichkeit über die Beschäftigung – die wollen nämlich nicht nur mit Theorie vollgestopft werden – doch zu einem Ausbildungsabschluss zu kommen. Das ist für uns im Übrigen ein Kombilohnmodell, was wir uns vorstellen können. Es richtet sich an unter 25-Jährige, wo ich eine gewisse Subvention an einen Arbeitgeber bezahle, der einen erheblichen Aufwand hat, um solche jungen Leute zusätzlich zu qualifizieren.

Deutschlandradio Kultur: Aber das ist Nachbessern. Macht es das Handwerk auch, dass es auf die Schulen zugeht? Sind Sie präsent in der Hauptschule?

Schleyer: Das ist etwas, wo wir jetzt ein Stück weitergekommen sind. Denn wir haben uns im Rahmen des Ausbildungspaktes immer wieder darum bemüht, auch mit der Kultusministerkonferenz, die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Wirtschaft zu verbessern. Da gibt es jetzt eine ganze Reihe von nennenswerten Ansätzen. Wir wollen aber flächendeckend zum Beispiel erreichen, dass Schulen ihren Schülern nicht erst drei Wochen, bevor sie die Schule verlassen, die Möglichkeit bieten, sozusagen Praktikerluft in Betrieben zu schnuppern und damit auch eine Vorstellung von betrieblicher Wirklichkeit zu bekommen. Wir müssen im Übrigen auch erreichen, dass Lehrer auf diesem Gebiet weitergebildet werden. Das Handwerk ist, wie andere Wirtschaftsbereiche, dazu bereit. Wir haben entsprechende Angebote gemacht. Das muss jetzt laufen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Schleyer, Sie sind seit 17 Jahren Generalsekretär des Deutschen Handwerks. Sie sind gelernter Jurist. Sie waren Staatsekretär in Rheinland-Pfalz. Haben Sie eigentlich auch eine handwerkliche Begabung?

Schleyer: Überhaupt keine, muss ich zu meiner Schande gestehen. Das hat auch gar keinen Sinn, sich etwas vorzumachen oder den Versuch zu unternehmen, trotz dieser Defizite handwerklich zu arbeiten. Das ist das völlig Unvollendete an mir, dass ich auf diesem Gebiet nichts vorzuweisen habe.

Deutschlandradio Kultur: Aber so eine Energiesparlampe, die können Sie schon austauschen gegen so eine alte Lampe?

Schleyer: Das würde ich, glaube ich, gerade noch fertig bringen.

Deutschlandradio Kultur: Aber gesetzt den Fall, Sie würden heute eine Lehrstelle suchen oder Sie müssten Ihren Kindern beziehungsweise mittlerweile wahrscheinlich Ihren Enkelkindern eine Empfehlung aussprechen, welcher Beruf würde Sie faszinieren? Was würden Sie empfehlen?

Schleyer: Ich glaube, es gibt aus der Sicht der einzelnen jungen Menschen, gerade im Handwerk, eine Vielzahl von attraktiven Berufen. Der eine ist mehr technisch begabt, der andere geht gerne mit bestimmten Materialien um, wie etwa Holz. Der Dritte ist künstlerisch begabt, der könnte zum Beispiel Steinmetzmeister werden. Also, da gibt es viele attraktive Möglichkeiten. Es gibt vor allem auch, und das ist etwas, was ich versuche jungen Leuten immer deutlich zu machen, im Handwerk wie in eigentlich keinem anderen Sektor die Chance, auch Unternehmer zu werden. Die Ausbildung zum Meister ist die einzige Ausbildung in Deutschland zum Unternehmer. Und wenn ich mir einmal die Vielzahl von Betrieben anschaue, die aus Altersgründen in den nächsten Jahren übergeben werden müssen, liegt auch darin eine große Chance für junge Leute, in der Selbständigkeit in einem Handwerksunternehmen.

Deutschlandradio Kultur: Das hört sich so an, als ob das Handwerk auch in Zukunft noch einen goldenen Boden hätte?

Schleyer: Ja.

Deutschlandradio Kultur: Wir danken für das Gespräch.