Qualen der Mittellosen

Von Angela Spahr |
Geld regiert die Welt, so heißt es. Und doch soll es nicht alles sein - in zahlreichen Debatten wird die Suche nach Werten gefordert, die mehr bedeuten sollen als der bloße Konsum. Höhere Werte, das klingt nicht nur gut, sondern passt auch perfekt in eine Zeit, in der viele Menschen viel zu wenig Geld besitzen. Also wäre eine leere Kasse nicht als Notlage zu interpretieren, sondern als Chance zur Besinnung und Umkehr zu deuten? Wohl kaum, denn Mittellosigkeit eröffnet lediglich eine Perspektive, und zwar die von Ausschluss und Isolation.
Derartige Qual trägt den Namen des griechischen Königs Tantalos, den - so will es die Sage - die Götter für böse Taten streng bestraften: der Missetäter musste bis zum Hals im Wasser eines Sees stehen. Von den Zweigen der Obstbäume am Ufer hingen die herrlichsten Früchte direkt vor seinen Augen herab. Eigentlich keine allzu schlechte Lage, aber immer wenn er seinen Durst löschen wollte, wich das Wasser zurück und die Früchte wurden von Zauberhand gehoben, wenn er, schwach vor Hunger, nach ihnen griff. So oder doch ähnlich ergeht es uns Heutigen, wenn wir ohne Geld in den Taschen umhergehen, und selbst in unseren eigenen vier Wänden hält uns die Werbung ihre lockenden Früchte direkt vor die Augen. Mehr noch, diese Früchte gestalten unsere Welt, denn es handelt sich schon längst nicht mehr um besondere Produkte, auf die man auch verzichten könnte. Statt einzelner Werbung für bestimmte Waren bietet sich dem potentiellen Konsumenten heute eher ein wunderbares Universum, das, von jungen, schönen Leuten bewohnt, Spaß und Freude verspricht. Präsentiert werden immer seltener Produkte, sondern vielmehr Güter wie Freundschaft, Liebe und Glück. Gerade hier werden Werte generiert und Modelle gelungenen Lebens vorgeführt, die anderenorts verloren gingen.

Doch trägt der Vergleich? Den Tantalos quälten Hunger und Durst, während es uns nach Handys, Handtaschen oder Autos verlangt. Die Unterscheidung zwischen "wahren" und "falschen" Bedürfnissen, scheint hier angebracht, die Herbert Marcuse einst traf, um zwischen Lebensnotwendigem und Überflüssigem zu differenzieren. Tatsächlich liegt sie implizite Alexander von Schönburgs Bestseller über "Die Kunst des stilvollen Verarmens" zugrunde. Die ebenso wahre wie triviale Message des Buchs "Konsum macht nicht glücklich" greift jedoch reichlich kurz. Schönburg geht an dem entscheidenden Problem, dass nämlich nicht konsumieren zu können, sehr unglücklich machen kann, komplett vorbei. Die Frage nach "falschen" Bedürfnissen stellt sich in einer konsumorientierten Gesellschaft schon längst nicht mehr. Dies musste der Philosoph Günther Anders bereits im Amerika der 60er Jahre feststellen, als ein Polizist ihn verhaften wollte, weil er entlang eines Highways zu Fuß unterwegs war. Ein gehender Mensch kam der Ordnungsmacht höchst suspekt vor, zumal der auch noch behauptete, keinen Wagen zu besitzen. Dinge nicht zu besitzen, grenzt aus, lernte der Denker, der meinte, kein Auto zu brauchen.

Heute nun ist die Werbewelt erst recht zur alltäglichen Umwelt geworden und das Soziale vielfach über Konsum vermittelt. Nicht mehr nur für Kinder und Jugendliche gilt, dass Waren über die Zugehörigkeit zu Gruppen entscheiden. Bestimmte Kleidung und technisches Equipment gehören einfach dazu, regeln mangels anderer Unterscheidungsmerkmale den Zugang zu verschiedenen Kreisen. Mitmachen und -reden zu können ist gefordert und selten umsonst, die Freunde treffen sich im Restaurant, beim Sport ist ein bestimmtes Outfit gefordert und auch das Bier am Stammtisch will bezahlt sein. Das Bedürfnis dazuzugehören, sei es nun über ein Handy oder eine neue Hose, kann nicht als "falsch" denunziert werden.

Bei der Konsumkritik derer, die da Wasser predigen und Wein saufen - der Verfechter einer stilvollen Armut trägt natürlich eine Rolex - handelt es sich um reine Heuchelei. Denn der Erwerb von Waren stellt nicht etwa ein moralisch anrüchiges, minderwertiges Verhalten dar, wie hier suggeriert wird, sondern es ist der heutigen Lebenswelt absolut adäquat. In einer Gesellschaft, die auf Konsum gebaut ist und sonst auch nicht viel zu bieten hat, sind leere Taschen eine verdammte Qual.

Angela Spahr, 1963 in Berlin geboren, Studium der Philosophie und Literaturwissenschaften. Lehraufträge an FU und TU Berlin, sowie Publikationen und Projekte in den Bereichen Philosophie, Kulturwissenschaften und Medientheorie. 2000 erschien in zweiter Auflage bei UTB Kloock/Spahr: "Medientheorien. Eine Einführung".