Angriffe auf ukrainische Städte

"Putin steht mit dem Rücken zur Wand"

07:49 Minuten
Der russische Präsident Putin, allein an seinem Schreibtisch. Im Hintergrund stehen eine Handvoll Telefone nebeneinander aufgereiht.
Wer hält noch zu Putin? Für den Slawisten Ulrich Schmid steht fest: Der russische Präsident bekommt in der aktuellen Situation Druck von seinen ranghohen Militärs. © imago / ZUMA Wire / Gavriil Grigorov / Kremlin Pool
Ulrich Schmid im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 12.10.2022
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Die russischen Raketenangriffe auf zivile Ziele in der Ukraine zeigen, dass Wladimir Putin zunehmend unter Druck gerät, sagt der Slawist Ulrich Schmid. Russlands Präsident sei von Militärs umgeben, die eine noch härtere Linie vertreten als er.
Die Raketenangriffe der letzten Tage, die überall in der Ukraine zivile Todesopfer gefordert und zahlreiche Menschen verwundet haben, zeigen, dass sich in Russlands Kriegsführung "die Gefechtslogik in eine Terrorlogik verwandelt hat", sagt Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Geschichte Russlands an der Universität St. Gallen.
Die Angriffe träfen vor allem Infrastruktur, die die Energie- und Stromversorgung der Ukraine sicherstelle, in mehreren Städten sei es zu Stromausfällen gekommen, so Schmid. Von daher ziele Putin offensichtlich darauf ab, die Bevölkerung zu zermürben, um den Druck für eine Verhandlungslösung zu erhöhen.

Umgeben von Hardlinern

Nach Schmids Einschätzung steht der russische Präsident jedoch selbst zunehmend unter Druck. Die Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine seien "Ausdruck einer Verzweiflung" und zeigten, "dass Putin mit dem Rücken zur Wand steht".
Schon mit der Teilmobilmachung in Russland habe Putin "mit guten Gründen lange gezögert". Angeordnet habe er diesen Schritt vermutlich "nicht aus eigener Initiative".
Schmid sieht den russischen Präsidenten umgeben von militärischen Hardlinern, die zum Teil einen noch härteren Kurs gegen die Ukraine befürworten als er selbst.
Ramsan Kadyrow etwa, der Präsident der autonomen russischen Republik Tschetschenien und seit Kurzem Generaloberst der russischen Streitkräfte, zeigte sich noch vor wenigen Tagen enttäuscht über die Entwicklung des Krieges. Kadyrow wisse jedoch, dass sein politisches Überleben von Putin abhänge, sagt Schmid. "Deshalb tut er auch alles, um einen Sieg in der Ukraine herbeizuführen."

Keine Palastrevolution zu erwarten

Laut dem Bericht einer Insiderin sei der Angriff auf die Ukraine am 24. Februar im Kreml mit Entsetzen aufgenommen worden, erklärt Schmid. Doch inzwischen habe Putin sein Umfeld "gewissermaßen in Geiselhaft" genommen. "Das Zeitfenster für eine Palastrevolution hat sich geschlossen" , vermutet Schmid:
"Die Leute, die jetzt im engeren Umkreis von Putin sind, hätten sich natürlich schon vor geraumer Zeit gegen diesen irrwitzigen Krieg stellen müssen. Mittlerweile werden sie selber als Komplizen wahrgenommen." Zu einer "Revolte innerhalb der Elite" werde es deshalb wohl nicht kommen.

Ein Großteil der Bevölkerung ist orientierungslos

Derzeit unterstütze etwa ein Viertel der russischen Bevölkerung den Krieg gegen die Ukraine aktiv, ein weiteres Viertel lehne ihn dezidiert ab, sagt Schmid. Doch der überwiegende Teil der Russinen und Russen sei derzeit "apathisch und orientierungslos" und dementsprechend durch Staatspropaganda sehr leicht zu beeinflussen.
Aus der Mitte der Bevökerung werde daher voraussichtlich kein direkter Protest gegen den Präsidenten erwachsen, sagt Schmid. "Die Opposition ist zerschlagen, und die sogenannten liberalen Insider, wie zum Beispiel der Premierminister Mischustin oder der Vorsitzende des Rechnungshofs, Kudrin, äußern sich kaum zum Krieg und haben im Moment nicht viel zu sagen."
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