Puschkin und der Meerrettichschnaps

Von Boris Schumatsky |
Die einen vergnügen sich in Moskauer Schenken, die "Schnapsgläschen" heißen. Dort können Werktätige für ein paar Cent Heringsbrot kaufen und schon früh am Tag zur Entspannung Wodka trinken. Besser Verdienende gehen zum Lunch ins "Studio", wo das Mittagessen zwischen 300 und 450 Rubel kostet oder verabreden sich im "Puschkin", wo sich die Gäste wie Adelige aus dem Zarenreich fühlen sollen und niemand mehr über Preise spricht.
"Wenn du was Schlechtes über uns schreibst, werde ich dich ausfindig machen. Es wird ein Leichtes für mich sein, dich zu finden, und dann wird es wehtun."

Es würde sogar sehr wehtun, droht der Glatzkopf in einer dunklen Kellerkneipe. Er steht mit einem Bierbecher in der Hand da, zwei weitere Becher und ein paar Schnapsgläschen auf dem Tisch vor ihm sind leer.

Hier sei seine Heimat, sagt der Mann, und das sei für ihn nicht bloß ein Wort. Seine Heimat sei so groß, sie erstrecke sich von Wladiwostok bis Kaliningrad, und das, sagt er, wäre alles unser: Du hältst die Heimat fest in deiner Faust, so, meint er und hebt seine geballte Hand. Mit dieser Faust würde er jeden erschlagen, der schlecht über seine Heimat redet.

Die Schenke "Der zweite Atem" ist heute schon am Mittag gut gefüllt. Ein Dutzend Männer über 50 stehen an runden Metalltischen, vollgestellt mit Plastikbechern und Plastiktellern. Darauf sind Bouletten oder Wurst, in den Bechern Bier oder Wodka. "Wir wollen uns ein bisschen entspannen", sagen die Männer. Im "Zweiten Atem" beginnt Moskau das Essen mit dem Saufen.

Die Schenken heißen auf Russisch Rjumochnaja, Schnapsgläschen. Zu Sowjetzeiten durften sich dort die Werktätigen zu jeder Tageszeit eine schnelle Entspannung holen: Vor der Arbeit, in der Mittagspause oder nach Büroschluss. Sergej hat damals in einer Bezirksverwaltung zu arbeiten begonnen, die nur zwei Minuten zu Fuß vom "Zweiten Atem" entfernt ist. Bis jetzt ist Sergej dort als Jurist tätig.

Heute ist er in seiner Mittagspause hierher gekommen, hat Würstchen mit Kartoffelpüree bestellt und dazu 50 Gramm Wodka. Der harte Alkohol wird in Russland in Gramm gemessen. Ein kleiner Schnaps kostet im "Zweiten Atem" umgerechnet 40 Cent, für 50 bekommt man Pelmeni, Teigtaschen mit Fleisch, für 10 Cent ein Heringbrot.

Sergej bestellt nun noch mal 50 Gramm. Ein Kollege kommt rein. Beide finden die Kneipe einmalig:

"Früher gab es überall solche Schenken, jetzt sind nur ein paar übrig geblieben. Dabei kann man sie mit gar nichts vergleichen. Eure deutschen Gaststätten sind einfach Schrott im Vergleich dazu. In einer Gaststätte muss man sich hinsetzen, hier aber darf man stehen bleiben, sich einfach einen an der Theke holen, ein Häppchen dazu – und fertig, du kannst gehen. Keine Stühle, keine Tischdecken, keine Servietten. Wir sind hier Stammkunden. Es kommen sehr unterschiedliche Leute hierher, vom Arbeiter bis zum Professor.

Neulich kam einer rein, er hatte eine Goldnadel in seiner Krawatte und eine Rolex-Uhr. Er trank 50 oder 100 Gramm an der Theke, aß ein Häppchen Hering, bedankte sich und ging. Ich treffe hier Leute aus allen sozialen Schichten, sogar Obdachlose. Das ist eines der wenigen Lokale, die noch demokratisch sind."

Die ehemaligen sowjetischen Arbeiter und Angestellten wie Sergej sind heute im Vorrentenalter. Noch vor 10 Jahren haben sie am Rand der Armutsgrenze vegetiert. Heute bekommen sie ein paar Brösel vom Tisch der Reichen und Mächtigen. Manchmal können sie sich sogar den Luxus eines Besuchs beim "Zweiten Atem" leisten. Hier können sie genauso ungezwungen wie am eigenen Küchentisch mit alten Freunden reden oder neue Freunde kennenlernen. Und diejenigen, für die es hier immer noch zu teuer ist, bringen den Schnaps einfach mit. Ein Wodka kostet im Supermarkt zwei Euro, halb so viel wie am Tresen.

Der Inhaber Anatolij beobachtet lächelnd seine Gäste. Der sportliche Mittsechziger tut so, als würde er nicht sehen, wie drei Männer an einem Ecktisch ihre Becher immer wieder aus einer Flasche nachfüllen, die sie in einer Reisetasche unter dem Tisch versteckt halten. Um sie daran zu hindern, sagt Anatolij, müsste er einen Security–Mann einstellen, was aber die entspannte Stimmung im "Zweiten Atem" ruinieren würde.

Und Anatolij will seine Ruhe haben:

"Ich will hier kein großes Geld machen. Alle finanziellen Probleme habe ich längst gelöst. Nun bin ich sozusagen im Ruhestand und brauche mich nicht ums Geld zu kümmern. Diese Schenke habe ich nur eröffnet, weil es mir Spaß macht. Früher hatte ich einmal ein wirklich großes Restaurant: italienische Küche, vor dem Eingang stets eine Warteschlange! Dann hat man es mir aber weggenommen."

Bevor Anatolij 1986 sein erstes Restaurant eröffnete, gab es in der ganzen Sowjetunion nur eine einzige private Gaststätte. Anatolijs war die Zweite auf dem neuen Markt. Heute ist die Gastronomie ein boomendes Geschäft. Vielen Pionieren der Branche gehören jetzt ganze Restaurant-Imperien mit Millionenumsatz. Andrej Dellos, der Besitzer des berühmtesten Moskauer Gourmetrestaurants Puschkin, hat vor Kurzem 50 Millionen Dollar in ein weiteres Luxusprojekt investiert. Andere Unternehmer der ersten Stunde wurden dagegen wie Anatolij um ihr Geschäft gebracht - oder gar um ihr Leben. Ein ganz normales Geschäftsrisiko während der anfänglichen Kapitalakkumulation. Anatolij wollte damals nicht um seinen Besitz kämpften. Er suchte sich lieber etwas Ruhigeres. Ein Lokal wie in guten alten Sowjetzeiten.

Zwei Jugendliche stehen abseits vom Trubel an einem Tisch neben dem Eingang. Sie fallen hier sofort auf mit ihren bunten Sportschuhen und Colaflaschen auf dem Tisch:

"Ich mache hier Führungen für meine Freunde. Zeige ihnen den sozialen Abgrund. Wir finden es alle spannend, wie es im Abgrund aussieht. Gut und ordentlich zu sein ist stinklangweilig. Wir sind ja selbst eine Randgruppe, wir sind Hooligans, Fans vom Zentralen Club der Armee. Deswegen meine ich das mit dem Abgrund gar nicht verächtlich. Schließlich ist es unsere Heimat. Am Abend hätte ich vielleicht sogar selbst einen getrunken, aber auf keinen Fall so früh. Außerdem gehe ich heute Abend zum Training, ich mache militärischen Nahkampf und da darf man nicht saufen."

Zwei Uhr nachmittags in Moskau. Im Restaurant "Studio" wird Business-Lunch serviert. Der Besitzer Artemij Lebedew, der bekannteste Webdesigner Russlands, hat sein Lokal für Leute wie ihn selbst konzipiert, für Junge und Kreative, die das mediale Leben Russlands prägen: die Werbung, die Hochglanzmagazine und vor allem das einzig wirklich freie Medium im Land, das Internet. Die Besucher vom "Studio" gehören einer Schicht an, die bereits in den 90er-Jahren wohl am meisten von der Marktwirtschaftsreform profitierte - abgesehen natürlich von den Erdölmagnaten und den korrumpierten Beamten des Putinschen Regimes.

Ein Capuccino kostet hier umgerechnet sechs Euro, soviel wie im "Zweiten Atem" ein komplettes Mittagessen für drei ehemalige Sowjetwerktätige mit Wodka oder Bier. Ein junger Mann hat gerade einen Salat und Teigtaschen mit Kirschen bestellt. Während er auf seine Bestellung wartet, tippt der Mann auf seinem Tablet-Computer.

"Das ist ein iPad", erklärt er. Hier im Café habe er die Möglichkeit, seine E-Mails zu checken, bei Twitter oder Facebook reinzuschauen, oder ein kleines Onlinespiel zu spielen. Also all die Sachen zu tun, auf die er am Arbeitsplatz keinen Bock habe. Denn dort seien sie dabei, noch viel coolere Sachen fürs Internet zu entwickeln. Sein Tischnachbar arbeitet in der gleichen Internetfirma, wo die Arbeit viel Spaß zu machen scheint. Beide tragen T-Shirts mit schrillen Motiven und modische Brillen: Die Uniform der Moskauer Hipsters.

Der Business-Lunch hier sei ganz okay, sagt der Tischnachbar:

"Das Mittagessen kostet zwar zwischen 300 und 450 Rubel, aber wir bewahren die Kassenbons auf und unsere Firma erstattet die Kosten. Ich muss sagen, dass die Internetfirmen besonders loyal zu ihren Mitarbeitern sind. Auch andere kreative Firmen, etwa die Designstudios, behandeln ihre Leute sehr gut. Und jede Offline-Arbeit hassen wir!"

Seit Wladimir Putin fast alle Medien gleichgeschaltet hat, ist die Freiheit ins Online verbannt. Irina hatte Glück, bereits mit 25 eine Stelle im freien Wirtschaftssektor zu finden. Sie sitzt am Fenstertisch vor einem aufgeklappten MacBook, liest aber fünf Minuten lang nur die Speisekarte. Billig sei es hier nicht, sagt sie:

"Aber Hauptsache, es wird nicht geraucht. Nach dem Lunch stinkt man nicht nach Zigaretten. Es gibt in der Umgebung viele Restaurants, und ich liebe die Abwechslung, aber heute hatte ich mal wieder Lust, etwas Leckeres zu essen, und ich brauchte unbedingt Wireless. Wenn ich nächstes Mal Geld sparen will und kein Wireless brauche, gehe ich woanders hin. Ich arbeite als Programmleiterin in einer Buchhandlung für spanische und italienische Bücher.

Und heute muss ich noch während der Mittagspause einen Mitarbeiter finden. Hier, schauen Sie, ich bin auf 'freelance.ru', und – soeben habe ich einen angeheuert! Aber am liebsten wäre ich heute ins 'Puschkin' gegangen. Wenn es dort bloß nicht so teuer wäre! Dann würde ich nur dort essen. Dort schmeckt alles unglaublich lecker, finden Sie nicht auch?"

Es ist 19 Uhr. Zwei Musikerinnen im Abendkleid spielen Flöte und Harfe für die Gäste des Restaurants "Puschkin", eines der teuersten in Moskau. Ein Salat kostet hier circa 20 Euro, so viel wie im Studio ein Business-Lunch für drei Grafikdesigner. Eine Flasche Rotwein ist im Puschkin schon für 100 Euro zu haben. Die Grand-Cru-Weine gibt es ab 500 bis zu knapp 4000 Euro, soviel kostet ein "Chateau Mouton-Rothschild" des gesuchten Jahrgangs 1982. Vor Kurzem hat das Restaurant einen 200 Jahre alten Cognac ersteigert und für 950 Euro pro 50ml-Glas angeboten. Die Flasche war im Nu weg.

Das "Puschkin" lockt aber seine Gäste auch mit der in Moskau seltenen russischen Küche: Mit Sterlet, eine kleine Störart in Kaviarsoße oder mit Schweinbein, gefüllt mit Hühnerfleisch und Steinpilzen. Dazu gibt es zum Beispiel den Chrenowucha, Meerrettichschnaps. Als einziges russisches Restaurant wurde das "Puschkin" von der Financial Times zu einem der 25 besten in Europa gekürt. Altkanzler Helmut Kohl hat hier gegessen, und natürlich auch Putins Freund Gerhard Schröder.

Der international prämierte Chefkoch Andrej Machow hat die Küche der guten alten Zarenzeit wiederbelebt:

"In meinem Bücherschrank stehen über 50 Kochbücher aus dem 18. und 19. Jahrhundert, und wir lassen uns von alten Rezepten inspirieren. Bei uns kann man zum Beispiel eine Brennnesselsuppe bekommen. Ich selbst habe elf Kilogramm Brennnesseln gesammelt. Fast alles ist schon weg."

An einem Großen Tisch verhandeln drei russische Unternehmer mit ihren ausländischen Partnern über Preise für eine Erdöllieferung. Ein Kellner in weinroter Samtweste fährt einen Servierwagen mit mehreren Flaschen Champagner zu ihrem Tisch. Die Unternehmer probieren einen und nehmen einen anderen.

Die Gäste vom Puschkin sollen sich hier wie russische Adlige vorkommen. Die Speisekarte ist in der alten Schrift gesetzt, die nach der Revolution von 1917 abgeschafft wurde. Jeder Gast wird mit "Gnädiger Herr" oder "Gnädige Frau" angesprochen, erzählt der junge Maître d'hôtel vom "Puschkin":

"Für manche mag das paradox klingen, aber nach sechs Jahren in Puschkin rede ich sogar die Leute auf der Straße so an: Gnädiger Herr, gnädige Frau, und die Leute freuen sich. Ist das denn nicht schöner als unser übliches 'junge Frau', wie komme ich zur soundso Straße?"

Sollte sich aber jemand hierher verirren, der offensichtlich kein gnädiger Herr ist, bekommt er es mit Männern in schwarzen Anzügen zu tun, die den Eingang bewachen.

"Obwohl ich das Wort Dresscode nicht mag, sind bei uns Damen in Abendkleid und Herren in teueren Anzügen besonders willkommen. Wir bevorzugen klassische Kleidung, und das vor allem im Interesse unserer Gäste. Denn wie würde sich bei uns ein Gast in Sportschuhen fühlen, unter all den schönen Damen und den Herren in Smokings?"

Ein Gast, der gerade gekommen ist, trinkt am Tresen einen Prosecco. Er trägt keinen Smoking, dafür aber einen Nadelstreifenanzug, eine Designerbrille und eine teuere Armbanduhr. Ein Spitzenmanager? Ein Medienunternehmer? Der Mittvierziger mit tadellosem Haarschnitt antwortet ausweichend:

"Nein, ich bin, wie wir alle, bloß ein Bürger unseres Landes, unseres großen Russlands. In den letzten Jahren hat Russland unglaubliche Veränderungen durchgemacht, sodass heute alle, die über 35 sind, eine ähnliche Biografie haben. Einst waren wir alle Lenin-Pioniere, dann wurden wir Mitglieder im Komsomol und schließlich Sowjetwerktätige, zum Beispiel Ingenieure. Später wurden viele von uns Unternehmer. Das war auch bei mir so. Im Geiste bin ich ein Unternehmer, dabei leite ich eine nichtkommerzielle wissenschaftliche Einrichtung."

Viele Direktoren von öffentlichen Einrichtungen können nun fast genauso gut Geld machen wie korrupte Beamte oder Kreml-nahe Unternehmer. Dies ist seit 1999 möglich geworden, dem Jahr, in dem Wladimir Putin die ganze Macht in Russland in die Hände fiel und in dem auch das "Puschkin" aufgemacht wurde.

"Dieses Jahr markiert einen Epochenbruch. Und das Restaurant 'Puschkin' steht symbolisch für die Rückkehr zu unseren Wurzeln, die uns 1917 verloren gingen und die wir jetzt mühsam wiederherstellen."

"Russland wird sich von den Knien erheben!", hatte einst Wladimir Putin versprochen. Die Schere zwischen Armen und Reichen klafft indes immer weiter auseinander. Das Land zerfällt in Parallelgesellschaften, die wenig miteinander gemeinsam haben. Nur noch der übersteigerte Nationalstolz wird vom neuen Adel im "Puschkin" und von den Stammkunden im "Zweiten Atem" geteilt. Der adrette Herr am Tresen würde gerne noch mehr über das große Russland erzählen, aber der Maître d'hôtel ist auf der Hut. Seine Gäste dürfen nicht mit Fragen belästigt werden.

In der Garderobe haben zwei junge Frauen gerade ihre Mäntel abgegeben. Die eine trägt ein offenes Abendkleid, die andere eine Bluse mit Perlen:

"Ich war mindestens zehnmal hier! Und ich zwanzigmal! Wir wohnen hier um die Ecke, aber meistens kommen wir morgens nach einer Party."

Beide Frauen studieren, die eine Modedesign und die andere Humanwissenschaften. Wie können sich Studentinnen die Puschkin-Preise leisten? Die Frau im Abendkleid sagt: "Wir haben Glück im Leben!" Haben sie etwa gute Nebenjobs? "Ach was", lachen die jungen Damen mit blauem Blut in den Adern, "wir haben Glück mit den Eltern".