Pure Poesie

24.12.2010
Hänsel und Gretel, Schneewittchen oder Dornröschen: In einem liebevoll aufgemachten Band präsentiert der Tulipan-Verlag die schönsten Märchen der Brüder Grimm. Und das ohne verschlimmbessernde Modernisierungen.
Wir sind mit ihnen aufgewachsen. Wir haben sie geliebt oder gefürchtet, bewundert oder bedauert: Hänsel und Gretel, Schneewittchen oder Dornröschen. Und wir haben auch über sie und mit ihnen gelacht: Mit dem tapferen Schneiderlein über den dummen Riesen, mit dem schlauen Bäuerlein über den bösen Teufel und mit - ja mit wem eigentlich? - über die größenwahnsinnige Frau des Fischers, die am Schluss wieder in ihrem Pisspott sitzt.

Kinder brauchen Märchen – nicht erst seit der amerikanische Psychologe Bruno Bettelheim dies forderte. Und die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm sind die erfolgreichste Märchensammlung der Welt. Dafür gibt es viele gute Gründe: ihren volkstümlichen Hintergrund, ihre literarische Qualität, ihre psychologische Doppelbödigkeit. Und natürlich ihre anrührenden Geschichten: über Gut und Böse, Angst und Scharfsinn, Trauer und Glück. Armut, Gefahr, Verrat – sie führen verlässlich zu einem guten Ende.

Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker, der hatte nichts zu beißen und zu brechen und kaum das tägliche Brot für seine Frau und seine zwei Kinder, Hänsel und Gretel.

Der Tulipan-Verlag, der bekannt ist für seine schönen Bilder- und Kinderbücher, hält auch hier sein Niveau. Neu an diesem liebevoll und sorgfältig aufgemachten Band sind natürlich nicht die Texte. Sie folgen vielmehr konsequent den Originalausgaben und verzichten auf alle Verschlimmbesserungen, glätten oder modernisieren nichts.

An einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab und rief: "Gut Mus feil! Gut Mus feil!"
Das klang dem Schneiderlein lieblich in die Ohren, er steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus und rief: "Hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Ware los."


Das ist pure Poesie und Fremdsprache zugleich. Poesie in den Ohren von Erwachsenen, aber fremd für Kinder. "Gut Mus feil!" – das muss man sicherlich erklären. Und: es klang "dem Schneiderlein lieblich in die Ohren" – nicht in den Ohren. Gleich spürt man förmlich das Eindringen des Rufes in das Ohr. Oder: "er steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus". Was für ein Bild: er "steckt" dieses Haupt hinaus, er "streckt" es nicht. Schon sehen wir ein sehr kleines, enges Fester vor uns und eine sehr kleine, dunkle Stube.

Mag sein, das ist überinterpretiert. Jeder liest eben, was er oder sie aufschlüsseln kann. Kinder hören oder lesen die spannenden, lustigen oder traurigen Geschichten und identifizieren sich mit den Figuren. Mit den schwachen am liebsten.

Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter harte, blanke Taler.

37 Märchen versammelt dieser neue Grimm-Band, darunter neben den bisher genannten natürlich die unverzichtbaren. "Der gestiefelte Kater" und "Frau Holle", "Hans im Glück" und "König Drosselbart", "Rapunzel" und "Rumpelstilzchen". 37 Märchen, das ist nicht viel, wenn man bedenkt, dass die Grimms ursprünglich 200 veröffentlich haben. Dafür sind die 37 im Tulipan-Band hübsch und großzügig gesetzt und eignen sich gut zum Selber-Lesen.

Ein König hatte drei Töchter; da wollte er wissen, welche ihn am liebsten hätte, ließ sie vor sich kommen und fragte sie. Die älteste sprach, sie habe ihn lieber als das ganze Königreich; die zweite, als alle Edelsteine und Perlen auf der Welt (!); die dritte aber sagte, sie habe ihn lieber als das Salz.

Was diesen Band aber einzigartig macht, das sind die Illustrationen von Klaus Ensikat. Zauberhaft zart und filigran sind die in den Text verstreuten kolorierten Zeichnungen. Ensikats Stärke liegt im präzisen Detail, ob er Gesichter oder Geschirr, Federn oder Fell zeichnet. Ensikats ganzseitige Bilder sind dazu höchst dramatisch aufgebaut. Die Dynamik der Bewegung, der Ausdruck von Gesichtern und Gesten, die Tiefe des Raums und vor allem die Komik vieler Szenen – das alles lädt dazu ein, Neues zu entdecken. Und das ist vielleicht das schönste Geschenk, das dieser Band uns macht: Er gibt uns den Grimmschen Humor zurück, den viele Illustratoren hinter Kitsch oder Magie, süßen oder bedrohlichen Bildern versteckt haben.

Besprochen von Sylvia Schwab

Jacob und Wilhelm Grimm: Grimms Märchen
Illustriert von Klaus Ensikat, Vorwort von Michael Maar
Tulipan Verlag, Berlin 2010
218 Seiten, 24,95 Euro