Radikale Hindus gefährden das Zusammenleben mit Muslimen
15:28 Minuten
Im nordindischen Gorakhpur gehören rund 70 Prozent der Einwohner dem Hinduismus an und 25 Prozent dem Islam. Lange war die Stadt für ein gutes Miteinander bekannt. Doch hindunationale Scharfmacher vergiften das Klima.
Anflug auf Gorakhpur. Die nordindische Stadt liegt eine Flugstunde von Neu-Delhi und etwa 100 Kilometer von der nepalesischen Grenze entfernt. Von dem kleinen Militärflughafen aus operiert die indische Luftwaffe. Erst seit Juni 2017 gibt es hier auch einen Terminal für Passagiere. Besucher zieht die 670.000 Einwohner-Stadt aber schon viel länger an. Denn in Gorakhpur soll vor rund 1000 Jahren der Heilige Gorakhnath gelebt haben, sein Tempel ist bis heute ein religiöses Zentrum.
Ein Heiliger, geboren aus Asche
Aus Lautsprechern schallen Bhajans, religiöse Lieder, über das Gelände des Gorakhnath Tempels. Das Hauptgebäude mit drei mächtigen Türmen ist aus Marmor erbaut. Sein Weiß leuchtet im Sonnenlicht. Gläubige flanieren über das weitläufige Tempelareal. Zwischen den Besuchern fallen zahlreiche Polizisten in khakifarbenen Uniformen auf.
Die Gläubigen drängen sich in einer langen Schlange vor dem Bildnis Gorakhnaths. Jeder möchte einen Blick auf den blumengeschmückten Heiligen erhaschen. Yogi Itvarnath sitzt an einem der Nebenschreine des Tempels. Er erzählt eine der Legenden, die sich um den großen Yogi Gorakhnath und seinen Guru Matsyendra Nath ranken:
"Sein Lehrer Matsyendra Nath Ji lebte als Bettelmönch. Eines Tages bettelte er in Nepal und bat eine Frau um Nahrung. Sie brachte ihm einen großen Teller Essen, aber sie weinte dabei. Matsyendra Nath fragte: Warum weinst du? Und sie antwortete: Ich habe keine Kinder, keine Tochter, keinen Sohn. Deshalb weine ich."
Der Asket gab der Frau eine Handvoll Asche, die sie essen sollte, doch die Frau streute die Asche auf einen Misthaufen. Als Matsyendra Nath zwölf Jahre später zurückkommt, findet er dort einen zwölfjährigen Jungen. Er nimmt den Jungen als Schüler auf und nennt ihn, weil er auf einem Kuhfladen geboren wurde, Gorakhnath, übersetzt: Kuhhirte. Auf dem Misthaufen soll der heutige Tempel errichtet worden sein.
Ursprünglich eine offene, tolerante Form des Hinduismus
Gorakhnath hat vermutlich im 10. Jahrhundert gelebt und gilt als einer der Urväter des Hatha Yoga. Der Asket gründete die Nath-Bewegung, eine Mischung aus Buddhismus, der Verehrung für den hinduistischen Gott Shiva und Yoga-Traditionen. Der Yogi soll ein vernunftbetontes, tolerantes und gegen jede Hierarchie gerichtetes Weltbild vertreten haben.
Die Nath-Bewegung lehnte ursprünglich das Kastenwesen ab und pflegte den freundschaftlichen Dialog mit anderen Religionen, insbesondere mit dem Islam. Aus diesem Grund zog der Gorakhnath-Tempel immer auch Dalit, also so genannte "Unberührbare" und Muslime an.
Grundsätzlich stehe der Hinduismus Muslimen offen gegenüber, erklärt Yogi Rabindranath. Der Yogi mit der orangefarbenen Robe sitzt hinter dem Büchertisch des Tempels. "Im Hinduismus gehören alle Menschen zusammen", sagt er. "Es gibt keine Hindus oder Muslime in unserer Religion. In der ewigen Ordnung, in die wir geboren werden, folgen wir dem Heiligen Buch, der Gita, oder anderen heiligen Büchern. Einer unserer heiligen Verse sagt, dass alle Religionen gleich sind. Hindus und Muslime sind ebenbürtig. Die Trennung zwischen beiden entsteht durch die Sprache der Politik, und wegen der Politik verändern sich die Dinge."
Tempeloberhaupt, Ministerpräsident und Hassredner
Mit dem aktuellen Mahant, dem Oberhaupt des Tempels, Yogi Adityanath, haben die Vorbehalte zwischen Hindus und Muslimen zugenommen. Yogi Adityanath wacht nicht nur als Mahant über die religiösen Belange des Tempels, er ist auch Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten indischen Bundesstaates Uttar Pradesh. Vorher war er viele Jahre Parlamentsmitglied für die jetzige Regierungspartei, die hindunationalistische Bharatya Janata Partei, kurz BJP. Seine Positionen bergen viel Sprengstoff:
"Wir akzeptieren die Tradition, dass jeder, der vom Hinduismus zum Islam konvertiert ist, jederzeit zurückkommen kann. Wir werden sie reinigen und wieder zu Hindus machen. Und sollten sie auch nur ein Mädchen der Hindu-Gemeinschaft nehmen, machen wir 100 muslimische Mädchen zu Hindus."
Diese Rede von 2009 ist nicht die einzige Hassrede Yogi Adityanaths. Inzwischen ist er landesweit als Scharfmacher bekannt. Im Jahr 1998 gründete der Oberpriester die radikale Hindu-Jugendorganisation Hindu Yuva Vahini, die immer wieder durch gewalttätige Übergriffe auf Muslime in die Schlagzeilen geraten ist. 2007 wurde der Yogi selbst für kurze Zeit wegen Hetze gegen Muslime inhaftiert.
Feuerschein der religiösen Eintracht
Jetzt, kurz vor Beginn der diesjährigen Wahlen fällt er wieder durch deftige Sprüche auf. In Gorakhpur gehören rund 70 Prozent der Einwohner dem Hinduismus an und 25 Prozent dem Islam. Eigentlich ist die Stadt für ein gutes Miteinander von Muslimen und Hindus bekannt. Dass diese Tradition ins Wanken gerät, spürt man besonders auf muslimischer Seite.
Im Imambara von Gorakhpur beten vier junge Männer. Das "Haus des Imam" wird vom Miyan Saheb geführt, dem religiösen Oberhaupt der muslimischen Gemeinschaft Gorakhpurs. Im Innenhof des weitläufigen Komplexes brennt ständig ein Holzfeuer, das der Legende nach eng mit der Geschichte von Hindus und Muslimen der Stadt verknüpft ist. Der Schriftsteller Tanveer Salim berichtet, wie sich der Nawab von Lucknow, ein muslimischer Herrscher, einst im Wald von Gorakhpur verirrte.
Als er von weitem den Schein eines Lagerfeuers erkennt, reitet er neugierig näher, erzählt Salim: "Dort fand er zwei Heilige sitzen. Einer von ihnen war ein Vorfahre von Adnan Farukh, dem heutigen Miyan Saheb. Und der andere Yogi gehörte dem Gorakhnath-Tempel an. Der Nawab war so beeindruckt von den beiden Heiligen, dass er ihnen mehrere Hektar Land und hundert Dörfer schenkte, um die Lage ihrer beiden Gemeinschaften zu verbessern. Das sind die beiden Pole der Ganga-Yamuna-Kultur von Gorakhpur."
Gemeinsamkeiten geraten in Vergessenheit
Die Ganga-Yamuna-Kultur erklärt Tanveer Salim so: "Der Ganges und die Yamuna sind Flüsse. Der Ganges ist der größere Fluss, also steht er für die Hindus. Die Yamuna versinnbildlicht die Muslime. Und sie leben und fließen gemeinsam. So haben sie es lange Zeit getan. Bis vor kurzem."
Was sich verändert hat, erklärt das muslimische Oberhaupt Adnan Farukh Shah. Der Miyan Saheb von Gorakhpur ist ein auffällig hochgewachsener Mann. Er sitzt auf der Couch in seinem großen Wohnzimmer und erinnert daran, dass die Familie des Miyan Saheb und der Mahant des Gorakhnath Tempels immer eine freundschaftliche Beziehung gepflegt und sich gegenseitig besucht haben. Er selbst habe sich darum bemüht, Yogi Adityanath zu treffen, fügt er hinzu, doch dieser habe nie Zeit gehabt.
Dabei teilen die beiden Religionen so viel:"Wir nennen es Allah, sie nennen es Bhagvan", sagt Adnan Farukh Shah, "aber im Grunde sprechen wir alle über Gott. Ob im Sufismus oder in der Gorakhnat-Tradition, wir sind Prediger Gottes. Wir sind alle Gläubige. Wir verehren Gott auf andere Weise als die Hindus, aber die Sache an sich ist die gleiche. Ich kenne den Unterschied nicht."
Weg vom Miteinander, hin zur Dominanz der Hindus
Seit Yogi Adityanath das Amt übernommen hat, sei das Miteinander von Hindus und Muslimen geschwächt. Die Einwohner Gorakhpurs, sagt der Miyan Saheb, würden die Ganga-Yamuna-Kultur zwar noch respektieren, aber: "Ich denke nicht, dass Yogi Adityanath noch auf irgendeine Weise die Ganga-Yamuna-Kultur lebt. Er spricht nur noch von den Hindus."
Und es bleibt nicht beim Schweigen über die Muslime. Seit Yogi Adityanath im März 2017 in Uttar Pradesh das Amt des Ministerpräsidenten übernommen hat, hat sich die Gewalt zwischen den Religionsgruppen verstärkt. Dem Online-Magazin "The Wire" zufolge ist die Zahl gewalttätiger Vorfälle im Bundesstaat Uttar Pradesh zwischen 2014 und 2017 um 32 Prozent angestiegen. 2017 gab es dort 195 solcher Vorfälle zwischen Hindus und Muslimen. Dabei kamen 44 Menschen zu Tode und 542 Menschen wurden verletzt.
Der Journalist Manoj Kumar arbeitet für ein Nachrichten-Online-Portal, das in Gorakhpur ansässig ist und kennt den Gorakhnath-Tempel gut. Als Mahant Digvijay Nath im August 1935 Tempel übernahm, habe er mehrere Entwicklungen angestoßen: "Wer auch immer vor 1930 Priester des Tempels war, wir kannten seine Kaste nicht, nur seinen Namen. Bei den drei letzten Mahants seit den 30er Jahren wissen wir, dass sie alle aus der Kriegerkaste kommen."
Politik und Religion vermischen sich immer mehr
Eigentlich ist es unüblich, dass Angehörige der Kriegerkaste, Rajputen, ein Amt im Tempel übernehmen. Als Mitglieder des zweiten Standes – Krieger, Fürsten und Könige - sind sie häufig in der Politik tätig. Nicht zufällig haben die letzten drei Mahants ihr religiöses Amt mit politischem Engagement gekoppelt: Mahant Digvijay Nath trat 1937 in die rechtsstehende Partei Hindu Mahasabha ein. Außerdem übernahm der Oberpriester eine führende Rolle in einer Bewegung, die sich dafür einsetzt, dass genau an der Stelle, wo damals noch eine große Moschee stand, ein Hindu-Tempel gebaut wird, weil dort der Geburtsort des Gottes Ram sein soll.
Dabei sei es in der Nath-Tradition nicht üblich, den Gott Ram zu verehren, erklärt Manoj Kumar. Doch der Mahant vergrößerte den Tempel um neue Gebäude und integrierte Hindu-Gottheiten, die bislang nicht zur Nath-Tradition gehörten. "Der Tempel erlebte eine Hinduisierung und Brahmanisierung", sagt Kumar, "und zugleich wurde die Kriegerkaste einflussreicher. All das passierte gleichzeitig."
Als Mahant Digvijay Nath 1969 sein religiöses Amt an seinen Nachfolger Avaidyanath übergibt, führt dieser nicht nur sein religiöses, sondern auch sein politisches Erbe weiter und setzt sich aktiv für eine hindunationale Politik ein. Außerdem zieht er sich Yogi Adityanath heran und reicht das Amt des Mahants 2014 an ihn weiter. Die Nath-Tradition, so Manoj Kumar, räume dem Guru eine herausragende Rolle ein: "Wer auch immer in diesem Tempel der Priester ist, kann seinen Nachfolger bestimmen. Dafür gibt es keinen demokratischen Prozess."
Heilige Schriften als Bestseller
In einer Fabrikhalle des Verlags Gita Press spuckt eine Druckmaschine Papierbögen aus. Der Koordinator Shri Kumar Narendra Ladia kennt jeden einzelnen Schritt des Buchdrucks. Wie im Tempel von Gorakhpur vermischen sich bei der Gita Press Religion und Politik. Die Geschäftsleute Jaydayal Goyandka und Hanuman Prasad Poddar gründeten die Druckerei und das monatliche Magazin Kalyan in den 1920ern. Seitdem soll die Gita Press rund 72 Millionen Ausgaben der Bhagavadgita, 70 Millionen Ausgaben der Arbeiten des Heiligen Tulsidas und 19 Millionen Ausgaben der Puranas und Upanishaden – alles heilige Schriften der Hindus – verkauft haben, übersetzt in 15 Sprachen. Das Magazin Kalyan hat eine monatliche Auflage von 200.000 Heften, die englische Ausgabe immerhin halb so viel.
Einer der Mitarbeiter öffnet einen Schrank, in dem sich rote Bündel stapeln. Vorsichtig zieht er eins heraus und öffnet es. Ein Pergament mit schwarzer Tinte wird sichtbar – eines der Originale, die von der Gita Press gedruckt werden. Manche der Schriften, so Shri Kumar Narendra Ladia, sind bis zu 300 Jahre alt. Den Erfolg des heute 500 Mann starken Betriebs erklärt der Koordinator so:
"Die Menschen schätzen die Gita Press, weil wir fehlerloses Material und auf Echtheit geprüfte Schriften anbieten - originale Schriften wie das alte Manu Smriti und viele mehr. Trotzdem machen wir mit unseren Büchern keinen Gewinn. Manche Bücher verkaufen wir sogar unter dem Selbstkostenpreis."
Der Verleger der Tradition verbreitet jetzt auch Nationalismus
Doch die Gita Press druckt nicht nur möglichst authentische und günstige religiöse Schriften, weiß Akshaya Mukul. Der Journalist hat sich intensiv mit der Druckerei in Gorakhpur auseinandergesetzt und ein dickes Buch geschrieben. Titel: "Die Gita Press und die Entstehung des hinduistischen Indiens".
Die Gita Press, erklärt Akshaya Mukul, wollte seit ihrer Gründung der Sprecher der "Hindu-Seele" werden und alle Hindus mit einer Stimme sprechen lassen: "Die Gita Press wurde ein Medium für die Sprache eines scharfen Hindunationalismus und brachte diese erfolgreich in die durchschnittlichen Hindu-Haushalte."
Als sich die Gita Press 1927 in Gorakhpur ansiedelte, knüpfte sie mit dem Gorakhnath-Tempel schnell freundschaftliche Bande. Denn politisch stimmen Verlag und Tempel überein, erklärt der Autor: "Es gab einen Niedergang in den letzten Generationen innerhalb der Gorakhnath-Sekte. Was Digvijay Nath verkörperte, wurde bei Avaidyanath schlimmer. Und jetzt haben wir diesen machthungrigen Mann, Yogi Adityanath. Die Sprache ist schlimmer geworden. Er hat die Grundsätze seiner eigenen Sekte vergessen."
Muslime haben Angst vor der Zukunft
In Gorakhpur hat sich die Tempeltradition innerhalb von drei Generationen politisch radikalisiert. Und ein Verlag vertreibt neben religiösen Schriften ein hindunationales Weltbild. Beides macht das Miteinander von Hindus und Muslimen komplizierter. Adnan Farukh Shah, das muslimische Oberhaupt von Gorakhpur, sorgt sich:
"Ich hoffe, dass es keine Zusammenstöße zwischen der hinduistischen und muslimischen Gemeinschaft geben wird. Ich möchte das wirklich nicht sehen. Es ist meine Pflicht, mich für das Wohlergehen der muslimischen Gemeinschaft einzusetzen und solche Zusammenstöße zu vermeiden. Die Muslime kann ich kontrollieren, aber nicht die Hindus."