Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler und lebt nach Professuren an der Brown University in Providence, der Universität Basel und der City University of Hong Kong als Medienberater und Buchautor in Berlin und Rio de Janeiro. Zu seinen Veröffentlichungen zum Digitalisierungsprozess gehören "Facebook-Gesellschaft" (Matthes & Seitz 2016) und "The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas" (MIT Press 2018).
Auf der anderen Straßenseite jubeln sie schon
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Sommer, Sonne, Fußball-EM: Alles könnte gerade so schön sein, meint Roberto Simanowski. Wäre da nicht das Elend der unterschiedlichen Übertragungsgeschwindigkeiten beim Public Viewing, das die einen schon jubeln lässt, während die anderen noch bangen.
Und es war Sommer. Nach dem Lockdown. Fußball-Europameisterschaft. Ich verbringe die warmen Abende draußen, mit den anderen, beim Public Viewing. Geimpft, getestet, fit for fun. Fußball halt. Fans im Stadion. Das macht es besser, selbst im Biergarten. Die Leute dort schreien auch für mich, wenn mein Team dem Tor entgegenstürmt. Und wenn der Ball hineingeht, schreie ich mit ihnen.
Wie schön, dass man wieder gemeinsam dabei sein kann! Das Ende der verordneten Stubenhockerei kann kaum besser gefeiert werden als beim Public Viewing. Denn nichts ist so sehr Dasein in reiner Gegenwart wie ein Sportereignis. Hier muss nicht gesprochen werden wie auf einer Party. Hier muss nicht gedacht werden wie im Theater. Hier wird geschaut, gefiebert und geschrien.
Sich im Moment verlieren
Hier hält der Atem an, hier fällt man aus der Zeit vom Aufbau des Gegenangriffs bis zum Schuss. Tor oder nicht. Freude oder Ärger, in jedem Falle Spannung pur mit kollektiver Entladung zum Abschluss. Ich hatte mich verloren gefühlt in meiner Stube. Nun war ich verloren in diesem Moment. Verloren in erhöhter Wachsamkeit, verloren in fokussierter Intensität.
Und dann passiert es: ein Aufschrei des Ärgers. Als hätte ein Ball das Tor verfehlt. Welches Tor? Welcher Ball? Dieser Ball dort auf dem Bildschirm, den Gnabry nun rüber auf Müller flankt, der schon im Strafraum ist, ihn mit dem Oberkörper annimmt und in einer rasanten Drehung, ohne dass der Ball den Boden berührt, aufs Tor schießt beziehungsweise, wie sich eine Sekunde später zeigt, unhaltbar knapp darüber?
Das Restaurant auf der anderen Straßenseite ist unserem offenbar zeitlich voraus. Liegt es näher zum Internet? Besitzt es eine schnellere Datenübertragung? Kabel oder Satellit statt Antenne? Oder umgekehrt? DVB-T2 statt DVB-C oder DVB-S. Jedenfalls ist unser Fernseher langsamer als der da drüben!
Wie lange dauert die Gegenwart?
Unsere Gegenwart ist immer schon vergangen. Das wäre eigentlich kein Problem. Denn was anders ist Gegenwart als das Vorpreschen der Vergangenheit in die Zukunft, wie der französische Philosoph Henri Bergson einmal sagte? Dieses Vorpreschen dauert nicht länger als eine halbe Minute. Dann ist, was soeben noch vor uns lag, schon Erinnerung. Gegenwart ist so lang oder kurz wie die Verzögerung, mit der mein Biergarten im Vergleich zum Restaurant da drüben das Fußballspiel überträgt.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich gehöre nicht zu den Menschen, die enttäuscht sind, wenn ihre Posts auf Twitter oder Instagram nach ein paar Sekunden noch keine Reaktion generiert haben. Ich lebe nicht im Rausch des Instantanen. Im Gegenteil, ich lese sogar Zeitungsartikel von letzter Woche.
Aber eine halbe Minute ist eine Ewigkeit, wenn die Parallelzeiten sich so nahekommen wie mein Biergarten und das Restaurant da drüben. Denn dann höre ich schon, was ich noch nicht sehen kann. Dann kenne ich den Ausgang des Konters schon bei seinem Beginn. Dann kann ich, egal ob der Ausgang gut oder schlecht ist, mich nicht mehr verlieren in jener fokussierten Intensität, um die es doch geht.
Das Gefühl, Archivbilder zu sehen
So falle ich aus dem Jetzt heraus zurück in die Zeit. Fühle mich betrogen um das, wofür ich die Stube verließ. Dort wäre es jetzt besser, jedenfalls bei geschlossenem Fenster. Dort hätte ich nicht das Gefühl, Archivbilder zu sehen. Dort wäre ich Zeitzeuge. Also zurück aufs Sofa?
Man kann die Sache auch positiv sehen. Der verfrühte Krach von der anderen Straßenseite besagt ja nicht nur, dass die Übertragung dort schneller ist, sondern auch, dass Übertragung Zeit kostet, auch fürs Restaurant da drüben. Auch dort sieht man den Angriff später als die Zuschauer im Stadion. Denn das Auge ist schneller als die Kamera, egal wie gut die ist und wie kurz der Übertragungsweg.
Diese Einsicht in die Unschlagbarkeit körperlicher Präsenz tut gut, und zwar auch dann noch, wenn sie selbst wiederum technisch vermittelt wird. Denn es bleibt ja dabei: Man sitzt wirklich im Biergarten, mit den anderen, zur EM. Man ist wieder körperlich präsent. Darauf noch ein Bier!