Pubertät als Gratwanderung

07.01.2009
Die 1953 in der früheren Tschechoslowakei geborene Iva Prochazkova hat einen ganz eigenen Ton in die deutsche Jugendliteratur gebracht. Genau wie in der "Zeit der geheimen Wünsche", für die sie 1989 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt, erzählt auch ihr neues Buch "Die Nackten" von einer Sehnsucht nach Freiheit.
Nackt sind sie nur ganz kurz, Sylva am Beginn und Filip am Ende des Romans. Klatschnass kommen sie vom Schwimmen in der Elbe beziehungsweise aus dem strömenden Regen, und ihre Nacktheit ist ein schönes Bild für die Freiheit, die sie sich selbstbewusst nehmen.

Im übertragenen Sinn sind jedoch alle jungen Leute nackt, von denen Iva Prochazkova erzählt. Denn "in der Pubertät ist der Mensch nackt, also berührt ihn alles direkt", sagt Sylvas Vater einmal. Und diese Berührungen können schmerzhaft oder erregend, verletzend oder beglückend sein.

Fünf junge Leute zwischen 16 und 18 Jahren bewegen sich durch eine Geschichte, die ein wenig angelegt ist wie Schnitzlers "Reigen". An zwei sehr verschiedenen Orten spielt sie, in Berlin und in einem tschechischen Dorf an der Elbe. Der Bücherwurm Filip ist in die unangepasste Sylva verliebt, Sylva aber sucht ihren früheren Freund Niklas in Berlin. Der jedoch hängt inzwischen mit Evita im Drogensumpf fest.

In Berlin lernt Sylva dann Robin kennen, einen, der sich fast immer im Griff hat. Es ist Sommer, es ist schrecklich heiß, und diese Hitze bringt nicht nur die Teerblasen auf den Straßen zum Brodeln …

Abwechselnd erzählt Iva Prochazkova von ihren fünf Protagonisten, deren Geschichten sich nur leicht an den Rändern berühren. Jeder lebt in seinem eigenen Universum, alle haben sie ein schwieriges Elternhaus oder eine kaputte Familie. Auch ihre Probleme sind sehr verschieden, die hochbegabte Sylva, deren Eltern getrennt leben, hat wenig gemein mit Evita, die zeitweise im Heim war.

Und den schüchternen Filip trennen Welten von Niklas dem Spinner. Doch eines haben sie alle gemeinsam: Sie stecken in einer Umbruchszeit, ihr Leben ist eine zitternde Gratwanderung zwischen Kindheit und Erwachsensein.
Wie Pubertät sich anfühlt, wie schmerzhaft und hilflos - nur wenige Autoren haben das so sensibel beschrieben wie Iva Prochazkova! Die unbestimmte Sehnsucht und das ziellose Suchen, die Empfindlichkeit und Verletzlichkeit, das euphorische Glück und die tiefe Depression - wir erleben diese Gefühle unmittelbar mit.

Und alle fünf entdecken sie ihre Sinne, öffnen Augen und Ohren. Sie saugen die widersprüchlichsten Eindrücke förmlich auf, schmecken, riechen, fühlen neugierig und erregt das neue Leben.

In expressiven Bildern und sinnlichen Sätzen erzählt der Roman "Die Nackten" von der schmerzhaften und einsamen Suche nach dem eigenen Weg. Von der Sehnsucht nach Liebe und Nähe und der gleichzeitigen Angst, sich festzulegen. Ganz nah ist die Autorin ihren Figuren, jungen Frauen wie Männern. In kreisenden Monologen erzählt sie förmlich aus ihnen heraus. Jedes neue Kapitel beginnt allerdings mit einem Dialog, der von außen mitten hineinführt in die drängendsten Konflikte.

Was ein gutes Jugendbuch ausmacht, Iva Prochazkova zeigt es auf unspektakuläre Weise: eine eindringliche Geschichte, die ihre Leser unmittelbar angeht, eine packende Sprache, die Lust macht auf Lesen und ein Schluss, der die Fantasie anregt und das Herz bewegt.

Rezensiert von Sylvia Schwab

Iva Procházková: Die Nackten
Verlag Sauerländer 2008,
264 Seiten, 14,90 Euro