Psychologin über digitale Sucht

"Wir kommen uns selbst abhanden"

Touristen fotografieren mit ihren Smartphones ein Hochhaus auf dem Alexanderplatz in Berlin.
Immer dabei, immer bereit: das Smartphone - ohne das sich die meisten von uns den Alltag nicht mehr vorstellen können. © dpa / picture alliance / Georg Fischer
Gisela Kaiser im Gespräch mit Dieter Kassel · 10.05.2017
Angeblich würden über die Hälfte der Amerikanerinnen lieber eine Woche auf Sex verzichten als auf ihr Smartphone. Für die Psychologin und Buchautorin Gisela Kaiser ist das nicht verwunderlich. Der Einfluss von Smartphone und Soziale Medien auf unseren Alltag lasse sich nicht mehr rückgängig machen.
"Die Veränderungen, die die Digitale Revolution mit sich gebracht hat, sind in unserem Alltag permanent erlebbar und inzwischen ganz normal. Komisch wird es dann, wenn Kinder am Strand keine Löcher mehr buddeln, sondern unter Handtüchern liegen, damit sie von der Sonne geschützt mit dem iPad spielen können", schreibt die Münchner Psychologin und Autorin Gisela Kaiser, die sich mit den Folgen exzessiver Nutzung digitaler Medien beschäftigt und dafür unter anderem Hunderte von Kindern und Jugendlichen befragt hat.
Schüler bei der Bundesjugendkonferenz Medien in Rostock tippen auf ihr Smartphone.
Am liebsten nur per Smartphone chatten: Jugendliche bei der Bundesjugendkonferenz in Rostock.© Bernd Wüstneck/dpa-Zentralbild
Kürzlich habe sie in der Straßenbahn neben einer jungen Mutter gesessen, die, statt sich mit ihrer zehn Monate alten Tochter zu beschäftigen, die ganze Zeit lang mit ihrem Smartphone herumgespielt habe und dem Baby Fotos gezeigt habe – ohne ihr Kind dabei jedoch wirklich anzusehen. Im Deutschlandfunk Kultur sagt Gisela Kaiser, was sie als Psychologin solchen Situationen denkt:
"Oh Gott, wie wird das für solche Kinder einmal sein – weil die ja immer zwischen sich und der Mutter diese Scheibe, dieses Handy haben, das so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht? Und das sagen ja auch alle Kinder, mit denen ich geredet habe: 'Meine Eltern brauchen mir gar nix zu sagen, weil, die hängen ja selbst komplett am Handy'."
An Jugendlichen könne man sehr gut beobachten, wie die selbstverständliche und teilweise suchthafte Nutzung von Smartphones dazu führe, dass "der Wunsch abhanden kommt, von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren". Viele Jugendliche seien zu Hause damit beschäftigt ihre vielen Facebook- oder WhatsApp-Kontakte zu managen, statt sich persönlich mit ihren Freunden zu unterhalten.

Handys aus dem Schlafzimmer verbannen

Dieses sich ausbreitende Phänomen "zersplittert uns – wir verlieren total die Möglichkeit, auf einen anderen Menschen wirklich einzugehen." Die Menschen machten sich abhängig von der Technik und würden sich selbst dabei abhanden kommen. "Wir zerschnitzeln uns unser Leben in ganz kleine Abschnitte."
Dass Handys unseren Alltag bestimmten, sei natürlich nicht mehr rückgängig zu machen. Aber Kaiser empfiehlt, bewusst der Sucht entgegen zu steuern: Handys sollten aus dem Schlafzimmer verbannt werden, das Smartphone einfach mal zu Hause gelassen werden, wenn man ins Kino gehe oder Einkäufe machte.

Gisela Kaiser: "Digitale Süchte – Appst Du schon oder lebst Du noch?"
Koehler, 2017, 324 Seiten, 14,95

Tipp:
Über die digitale Süchte und unsere Abgrenzung oder Nicht-Abgrenzung kann man sich noch bis einschließlich heute, 10. Mai, bei der Medien-Convention re:publica in Berlin informieren. Hier geht es zum Programm.

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Es gibt ein relativ legendäres, kurzes Video aus Südkorea. Es hat vor einigen Wochen ziemlich viel Wirbel auch in Deutschland im Internet gemacht. Da sieht man eine junge Koreanerin, die in einem Einkaufszentrum in einen Brunnen fällt, weil sie ihr Handy in der Hand hat und nur auf dieses Handy blickt und nirgendwo sonst hin. Das zeigt, dass die zu intensive Nutzung von Mobiltelefonen auch körperlich gefährlich sein kann. Aber die wahren Gefahren lauern natürlich eher woanders. Nicht nur unsere persönlichen Beziehungen zu anderen, sogar auch unsere eigene Identität sieht die Psychologin Gisela Kaiser in Gefahr durch die zunehmende Abhängigkeit von Apps und vom Internet. Sie hat ein Buch darüber geschrieben mit dem Titel "Digitale Süchte: – Appst du schon oder lebst du noch?", und wir wollen über ihre Thesen jetzt sprechen. Einen schönen guten Morgen, Frau Kaiser!
Gisela Kaiser: Guten Morgen!
Kassel: Um mal ein paar Beispiele vielleicht zu nennen: Wo hört denn für Sie die intensive Nutzung wirklich auf bei Handys und Ähnlichem, und wo fängt die Abhängigkeit an?
Kaiser: Ich denke, dass jeder Mensch das bei sich selbst merken kann. Wenn man irgendwie nervös wird, wenn man irgendwie das Gefühl hat, ich suche mein Handy, ich finde es gerade nicht, dann merkt man ja, dass man in gewisser Weise schon abhängig ist. Ich sehe das so, ich bin auch schon mal herumgekrochen, hinter meinem Handy her gekrochen, weil ich es nicht gefunden habe, weil es ausgestellt war. Und da habe ich gemerkt, dich hat es ja irgendwie auch schon erwischt, und das hat mich eben motiviert, darüber nachzudenken und mit Menschen zu sprechen.
Kassel: Ich kenne das auch. Mein Handy ist mir mal in die Sofaritze gefallen, wo man es allein nicht heraus kriegt, und ich war allein zu Hause. Solche Situationen gibt es. Aber gibt es Situationen für Sie, wo Sie sich damit beschäftigt haben, gerade auch mit der Nutzung von Kindern und Jugendlichen, gibt es für Sie immer noch Momente, wo Sie andere mit ihrem Handy beobachten und wo Sie immer noch schockiert oder sagen wir mal zumindest sehr überrascht sind?

Mutti schaut aufs Smartphone statt aufs Kind

Kaiser: Das gibt es immer noch. Ich habe mich natürlich dran gewöhnt. Man sieht das ja tagtäglich in der U-Bahn, überall, in der Straßenbahn, es geht ja kaum noch ein Mensch ohne Handy rum. Aber gestern zum Beispiel warte ich auf eine Straßenbahn, da hat eine junge, attraktive Mutter neben mir gesessen, das Kind war zehn Monate, ich hab gefragt, lag im Kinderwagen, sie schaut die ganze Zeit eigentlich nur fünf Minuten lang auf ihr Handy, lacht und kichert. Und irgendwann zeigt sie dem Kind das Bild und sagt: Das bist ja du, du hast mit Julia gespielt. Das war lustig, und jetzt schicken wir es dem Papa. Und dazu muss ich sagen als Psychologin, das ist erstens überhaupt keine Art, mit einem Kind zu sprechen, das zehn Monate alt ist. Zweitens hat sie sich ja überhaupt nicht mit dem Kind beschäftigt, es angelächelt, sondern nur auf ihr Handy geguckt. Und das sind diese Momente, die mir als Psychologin immer zu denken geben, weil ich mir denke, oh Gott, wie wird das eigentlich mal für diese Kinder sein? Weil die ja immer zwischen sich und der Mutter diese Scheibe haben, sage ich mal, oder dieses Handy haben, das so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Und das sagen ja auch alle Kinder, mit denen ich geredet habe: Meine Eltern brauchen mir gar nichts sagen, weil die hängen ja selbst komplett am Handy.
Kassel: Aber das ist doch zum Beispiel auch ein interessantes Beispiel, wo mir noch ein paar Erklärungen fehlen. Wenn jetzt diese Mutter zum Beispiel ihr eigenes Kind, das ja, was weiß ich, 40, 50 Zentimeter von ihr entfernt war, auf dem Handy lieber betrachtet, oder wenn – ich kenne das zum Beispiel von einer 16-Jährigen, die mit ihrer eigenen Freundin lieber per WhatsApp kommuniziert, selbst, wenn die im gleichen Zimmer sitzen. Aber warum ist denn für viele von uns diese Kommunikation übers Handy interessanter, auch wenn sie in einer gewissen Situation technisch ja gar nicht erforderlich ist?
Kaiser: Ich bezeichne in meinem Buch ja Handys als Ich-Apparate. Für mich sind das ausgelagerte narzisstische, wie soll ich sagen, Eigenschaften. So ein Handy, nicht ein normales Handy, sondern ein Smartphone, beinhaltet ja alles, unsere Identität, unsere Wünsche, unsere Bilder, unser Gedächtnis, unsere Lieblingslokale. Und irgendwie denke ich, dass es uns allmählich abhanden kommt, dieser Wunsch, wirklich von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren. Und es ist einfacher für die Kinder und Jugendlichen, über das Handy zu kommunizieren. Viele sagen mir, ich bin froh, wenn ich dann mal zu Hause bin, dann muss sich nicht mit meinen Freunden reden, sondern dann habe ich wirklich nur noch das Handy da und kann mich mit diesen vielen Kontakten beschäftigen, die ich habe. Das ist ja das, was uns zersplittert. Wir verlieren total die Möglichkeit, auf einen anderen Menschen wirklich einzugehen. Das ist jetzt wirklich meine Meinung, nachdem ich mit Hunderten von Kindern und Jugendlichen gesprochen habe. Wir machen uns abhängig von technischen Geräten.

Unser Alltag wird in kleinste Teil fragmentiert

Kassel: Aber ich kann Ihnen noch ganz gut folgen, wenn Sie sagen, unsere Kommunikation mit anderen verändert sich dadurch, und zwar nicht unbedingt zum Besseren. Aber Sie gehen ja noch weiter und sagen, das bedroht unsere eigene Identität. Aber bedroht es meine Identität, nur weil ich jetzt Telefonnummern nicht mehr auswendig weiß, weil die im Handy sind? Was bedroht meine eigene Identität denn dabei?
Kaiser: Ich glaube, dass wir uns durch diese extreme Nutzung des Handys einfach selbst abhanden kommen. Stellen Sie sich jetzt mal einen Menschen vor, der meditiert. Der lernt ja im Laufe von Monaten, nur noch, durch die Atmung, bei sich selbst zu sein. Und wenn wir uns ständig, wenn wir die Realität ständig in Schnitzel aufteilen, also hier mal drei Minuten, hier mal fünf Minuten, hier wieder nachgucken, hier wieder irgendwas machen oder auf Instagram gehen – wir zerschnitzeln uns unser Leben in ganz kleine Abstände. Und dieser Fluss, den ein Leben ausmacht, der geht verloren.
Kassel: Aber ist das wirklich zu verhindern? Sie wissen selbst, es gibt kaum eine technische Entwicklung, die nicht am Anfang als sehr gefährlich betrachtet wurde. Ich meine, der berühmte erste Zug von Nürnberg nach Fürth. Diese Geschwindigkeit können ... Ich bin noch aufgewachsen mit dem Hinweis, guck nicht den "Tatort", wirst du selber kriminell. Das hat sich ja alles als nicht ganz so schlimm herausgestellt. Müssen wir nicht eher lernen, anstatt diese intensive Handynutzung abzuschaffen – das wird ja nicht gehen –, eher lernen, das zu machen und trotzdem Schaden abzuwenden von uns?
Kaiser: Ich glaube, wir müssen uns einfach direkter damit beschäftigen. Das heißt, erst einmal eine gesellschaftliche Diskussion in Gang setzen. Zweitens, jeder muss sich überlegen, gibt es nicht Möglichkeiten, das zum Beispiel mal aus dem Schlafzimmer rauszulegen. Das schreibe ich auch in meinem Buch, einfach Tipps. Einfach handyfreie Zeiten einzuführen im eigenen Leben, um wieder irgendwie eher zur Ruhe zu kommen, weil es ja definitiv nervös macht, dieses ständige Handygegucke.
Kassel: Oder eben zu mir kommen und ins Sofa fallen lassen. Da hat man garantiert einige Stunden Ruhe.
Kaiser: Oder im Restaurant einfach mal weglassen. Oder wenn ich ins Kino gehe, auch zu Hause lassen. Man muss das nicht ständig mit sich herumschleppen.
Kassel: Das klingt banal, ist aber, glaube ich, immer mehr Menschen nicht mehr so klar inzwischen. Frau Kaiser, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch und wünsche Ihnen einen wunderbaren Tag heute.
Mehr zum Thema