Joseph Henrich: „Die seltsamsten Menschen der Welt“

Warum westliche Menschen „weird“ sind

06:53 Minuten
Cover des Buchs "Die seltsamsten Menschen der Welt" von Joseph Henrich. Es zeigt ein historisches Foto einer weißen Familie mit einem Sohn und einer Tochter. Die Familie ist festlich angezogen, sitzt an einem festlich gedeckten Tisch und ist gerade ins Tischgebet vertieft. (Bildrechte Cover: Suhrkamp)
© Suhrkamp Verlag

Joseph Henrich

Aus dem Amerikanischen von Frank Lachmann und Jan-Erik Strasser

Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurdeSuhrkamp, Berlin 2022

918 Seiten

34,00 Euro

Von Volkart Wildermuth · 16.03.2022
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Westliche Menschen sind seltsam, denn sie kümmern sich mehr um sich selbst als um ihre Familie. Schuld daran sei die katholische Kirche, schreibt der Anthropologe Joseph Henrich, der eine provokante Evolutionsgeschichte der Kultur verfasst hat.
Wenn Sie den Satz „Ich bin …“, mit „leidenschaftlich“ ergänzen oder mit „eine Wissenschaftlerin“ und nicht mit „Paulas Papa“, dann ist Ihnen vermutlich die eigene Person wichtiger als die Familie. Und damit sind Sie „weird“, behauptet der Anthropologe Joseph Henrich.
Das englische Kürzel steht für westlich, educated (also gebildet), industrialisiert, reich und demokratisch. „Weird“ bedeutet gleichzeitig aber auch so viel wie seltsam.

Schuldig, schamlos und schlechte Freunde

Seltsame Menschen sind global gesehen eine Minderheit, aber die Wissenschaft hat sie lange zur Norm erklärt, schreibt Joseph Henrich. Warum ist das so? In seinem Buch erklärt der Anthropologe, gestützt auf eine Fülle historischer und soziologischer Daten, wie der westliche Mensch erst seltsam und dann erfolgreich wurde.
Menschen, die „weird“ sind, fallen auf optische Illusionen herein und können Gesichter schlechter erkennen. Sie fühlen sich schuldig, wenn sie nicht joggen. Aber sie empfinden keine Scham, wenn der Sohn schlechte Noten nach Hause bringt. Vetternwirtschaft halten sie für verwerflich, anderswo wäre es unmoralisch, die Familie nicht zu unterstützen. Entscheidend für die Unterschiede, so Henrich, ist die Intensität der Verwandtschaftsbeziehungen. Zumal sonderbare Menschen schlechte Freunde seien.

Der Westen ist individualistisch geprägt

Westliche Gesellschaften sind heutzutage letztlich individualistisch geprägt, während in den meisten anderen Ländern der Welt Verwandtschaftsstrukturen wichtiger sind. „Wir sehen uns selbst als einzigartige Wesen, nicht als Knotenpunkte in einem sozialen Netzwerk, das sich durch Raum und Zeit erstreckt.“
Verantwortlich für den westlichen Sonderweg soll überraschenderweise die katholische Kirche sein. Mit ihrem Gebot der Monogamie und dem Verbot der Vetternheirat „gelang dem westlichen Christentum eher zufällig das geniale Kunststück, verwandtschaftsbasierte Institutionen zu zerschlagen und damit gleichzeitig seine eigene Verbreitung zu katalysieren“, schreibt Joseph Henrich.
Über Hunderte von Jahren hätte die Kirche so die Psychologie der Europäer verändert und dadurch Aufklärung, Demokratie und industrielle Revolution überhaupt erst ermöglicht.

Überzeugende Version der Weltgeschichte

Das klingt zunächst weit hergeholt, aber in seinem Buch führt der Anthropologe so viele Statistiken und überraschende Beispiel an, dass seine Version der Weltgeschichte am Ende überzeugt.
Verblüffend für ein Buch, das ja gerade auf Vielfalt aufmerksam machen möchte, ist, dass Henrichs Fokus aber vor allem auf den Erfolgen erst Europas und dann des Westens generell liegt.
Kolonialismus, Sklaverei, Genozide werden ausgeblendet. Dazu gäbe es ja bereits viele Bücher, wiegelt Joseph Henrich lakonisch ab. Sein Ansatz, die Geschichte der letzten 1500 Jahre mit dem Konzert „Seltsame Psychologie“ zu erklären, kommt hier an seine Grenzen.
Das sollte man bei der Lektüre des Buches im Hinterkopf behalten, um nicht gleich einer neuen Denkverzerrung zu erliegen, während man noch über andere aufgeklärt wird. Unterm Strich ist das aber nur eine kleine Kritik an einem ansonsten horizonterweiternden und dazu noch äußerst unterhaltsamen Buch.

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