Psychologie

Ordnung für Raum und Seele

Chaos und Unordnung in einem Arbeitszimmer
Chaos und Unordnung in einem Arbeitszimmer © picture-alliance / dpa / Alexander Farnsworth
Von Sven Kästner |
Wenn Menschen nichts wegwerfen können, steht dahinter oft ein psychisches Leiden. In ihren Wohnungen leben die Betroffenen in Chaos und Unordnung. Ein Berliner Verein hilft Messies dabei, das Aufräumen wieder zu lernen.
"Wollen Sie denn das heute noch machen?"
"Nein, da ist zu viel drin. Das schaffen wir heute nicht. Das können wir ja dann beim nächsten Mal machen."
Zwei Frauen beraten, was sie in den kommenden zwei Stunden aufräumen wollen. Eigentlich eine alltägliche Beschäftigung. Renate Lehmann aber leidet am Messie-Syndrom. Jahrelang wuchs in ihrer Anderthalb-Zimmer-Wohnung am südlichen Berliner Stadtrand das Chaos. Vorwiegend Bastelsachen türmen sich auf, Reste ihres ausufernden Hobbys.
"Ich habe immer was Neues rausgekramt, weil ich ja durchweg gebastelt habe. Und man räumt das dann nicht wieder weg, weil man braucht das ja. Und ich habe immer nur oben rauf gelegt."
Sofa, Sessel und Couchtisch sind unter all dem Gerümpel verschwunden. Hüfthoch stapeln sich Kisten, Pappen, Papier und auch viele Kleider in einer Hälfte des Wohnzimmers. Das Chaos steht im seltsamen Kontrast zu Renate Lehmann, die recht elegant wirkt mit ihren kurzen, grauen Haaren, der randlosen Brille mit rot getönten Gläsern und dem passenden roten Pullover.
Unordnung als Schutz
Die 61-Jährige kramt in einer Tüte voller Papierrollen. Dann erzählt sie, dass sie den hohen Bergen in ihren Zimmer und auf ihrem langen Esstisch auch eine gewissen Behaglichkeit abgewinnen konnte:
"Ich fühlte mich hier hinter irgendwie geschützt. Das war so mein Wall, mein Schutzwall, ja."
Messies sind nicht zu faul zum Aufräumen. Sie können es einfach nicht. Bei Renate Lehmann war eine Depression der Auslöser. Sie fühlte sich im Job gemobbt und verschanzte sich zu Hause. Seit einigen Jahren ist sie arbeitslos. Andere können den Tod der Eltern oder die Trennung vom Partner nicht verarbeiten. An banale Dinge ketten sie dann ihre Erinnerungen - und das führt dazu, dass sie nichts mehr wegwerfen können.
Der Esstisch ist fast frei
Heute hat Renate Lehmann Hilfe beim Aufräumen. Seit vier Monaten kommt Marie Kaiser zweimal pro Woche. Die 31-Jährige arbeitet beim Verein Freiraum Berlin-Brandenburg, der Messies dabei unterstützt, wieder in ein normales Leben zurückzufinden. Mittlerweile geht es voran in der Wohnung, wenn auch langsam. Der große Esstisch im Wohnzimmer ist beinahe frei - und auch einige Quadratmeter drum herum.
"Also man darf sich nicht vorstellen, dass der Tisch innerhalb einer Woche dann leer ist. Sondern das war eine Sache, die sich über einige Termine hinzog. Und es wurde immer flacher, immer flacher. Und irgendwann stießen wir dann tatsächlich auch auf Tisch."
Jedes einzelne Teil auf dem Tisch nahmen Helferin und Betreuerin in die Hand und entschieden gemeinsam, ob es entsorgt werden kann.
Trotz ihrer zierlichen Gestalt - Marie Kaiser kann zupacken. Als ausgebildete Psychologin weiß sie aber auch, dass Messies das Ordnen langsam wieder lernen müssen, wenn sich ihr Verhalten nachhaltig ändern soll:
"Die Hilfe soll mehr machen als nur das Sortieren. Also dass es in diesem Fall darum geht, wieder eine Regelmäßigkeit herzustellen, die Selbstständigkeit wieder aufzubauen. Die Stimmung beim Arbeiten im Blick zu haben. Das sind so die Kernpunkte."
Fortschritte in der Küche
Mittlerweile sind beide Frauen in der Küche beschäftigt. Auch hier ist schon ein gutes Stück geschafft. Einiges an Geschirr, Töpfen, Pfannen und leeren Verpackungen aber liegt noch herum. Heute haben sie sich einen hohen Einbauschrank gleich neben der Küchentür vorgenommen.
Lehmann: "Da hinten ist noch so ein Schrank, da ist so ganz viel Plastikzeug drin. … Da wird was davon hier rein kommen."
Kaiser: "Weil der Schrank da hinten jetzt zu voll ist, oder?"
Lehmann: "Ja. Aber davon kann auch was raus. Also davon will ich was aussortieren."
Renate Lehmann lernt nach und nach, manche Dinge selbst zu entsorgen. Natürlich hätte jede Entrümpelungsfirma die Messie-Wohnung auch in wenigen Tagen leeren können. Angehörige oder Freunde bieten so etwas zuweilen als gut gemeinte Hilfe an. Das schnelle Entrümpeln kann aber zu neuen Depressionen führen - bis hin zu Selbstmordgedanken.
Und langfristig bringe es auch nichts, sagt Psychologin Marie Kaiser:
"Wenn eine fremde Person die Wohnung aufräumt und entrümpelt, ändert die leere Wohnung noch nichts an der dahinter stehenden Problematik. Es werden keine Verlustängste aufgearbeitet. Die werden eher noch vergrößert, weil die Sachen auf einmal weg sind. Es wird keine Kondition zum Aufräumen geschaffen, weil die Person nicht selber aufräumt. Das kann man nur erlernen und wieder erlernen, die Sachen zu sortieren, wenn man es selber macht."
Lehmann: "Ja, müssen erst mal alle rein. Sonst kann ich die Tür nicht aufmachen."
Platz für ein neues Lebensgefühl
Es bleibt noch viel zu tun in Renate Lehmanns kleiner Wohnung. Nicht nur weiteres Aufräumen, auch gründliches Putzen ist nötig. Aber das halbe Wohnzimmer und die Küche sind wieder begehbar, die ersten Schränke aufgeräumt. Und der Esstisch bietet Platz für ein Stück normalen Alltag.
Fortschritte, die sich auf das Lebensgefühl auswirken.
"Freier. Anders kann ich es nicht sagen. Ja, freier. Ich habe jetzt wieder mehr Raum. Nachdem die Küche jetzt auch wieder benutzbar ist, kann ich auch schon wieder kochen. Vorher stand alles voll, da war gar kein Platz dafür. Das haben wir jetzt auch schon geschafft."
In einigen Monaten, das hat sich Renate Lehmann vorgenommen, will sie ihre beste Freundin zum Essen einladen. Es wäre der erste Besuch in ihrer Wohnung seit Jahren.
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