Psychologe fordert "sozialen Geleitschutz" nach Entlassungen

Thomas Kieselbach im Gespräch mit Gabi Wuttke · 21.10.2009
Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, benötigen nach Ansicht des Psychologen Thomas Kieselbach Hilfe von anderen, um mit der Situation besser fertig zu werden. So sollten Firmen Verantwortung übernehmen und Ex-Beschäftigten durch qualifizierte, externe Beratung bei der Arbeitssuche helfen, sagt der Forscher vom Institut für Psychologie der Arbeit an der Universität Bremen angesichts der Abwicklung von Quelle.
Gabi Wuttke: Arbeiten kann krank machen. Der Druck des Arbeitgebers macht Angst und der Verlust des Jobs kann in Depressionen stürzen – mit fatalen Folgen, wie bei Mitarbeitern der Telekom in Frankreich. Die Mitarbeiter von Quelle können nicht mehr kämpfen, sie haben ihre Arbeit verloren. Professor Thomas Kieselbach forscht an der Universität Bremen über die Psychologie der Arbeit und Arbeitslosigkeit. Guten Morgen!

Thomas Kieselbach: Guten Morgen!

Wuttke: Was geht in der Seele vor, wenn man die Nachricht bekommt, ab morgen hast du keine Arbeit mehr?

Kieselbach: Ich denke, in einer Gesellschaft wie unserer, in der unser Leben sehr stark zentral um Arbeit und Beschäftigung organisiert ist, bedeutet der Verlust des Arbeitsplatzes einen erheblichen psychosozialen Stressor. Und wir müssen den sehr ernst nehmen und müssen versuchen, Menschen in einer solchen Situation nicht alleine zu lassen, sondern ihnen die Hilfen anzubieten, die notwendig sind, um mit einer solchen Situation besser fertig zu werden.

Wuttke: Was heißt das denn für die Menschen, die kein Licht am Ende des Tunnels sehen, weil sie plötzlich arbeitslos geworden sind?

Kieselbach: Bitte?

Wuttke: Was das jetzt ganz konkret heißt für Menschen, die arbeitslos geworden sind von einem Tag auf den anderen?

Kieselbach: Die Hilfen, die notwendig sind, um in einem solchen Übergang jemanden zu begleiten, können darin bestehen, dass sie professionelle Hilfe bekommen, die ihnen deutlich machen, welche Möglichkeiten, welche Chancen sie auf dem Arbeitsmarkt haben, welche Möglichkeiten der Requalifizierung sie möglicherweise nutzen können und wie sie mit dem Verlust des Arbeitsplatzes individuell emotional fertig werden können. Es gibt dort … Wir sprechen davon, dass Menschen in einer solchen Situation so etwas wie einen sozialen Geleitschutz benötigen, damit sie nicht den Eindruck haben, ich bin nur auf mich alleine gestellt, und die Tatsache, wie ich damit fertig werde, ist nur von mir selbst abhängig.

Wuttke: Ist das Gesundheitssystem in Deutschland auf solche Fälle vorbereitet? Wir sehen in eine Zukunft, in der die Arbeitslosigkeit noch weiter steigen wird.

Kieselbach: Also ich denke, es ist nicht nur eine Aufgabe des Gesundheitssystems, sondern ist eine Aufgabe des gesamten sozialen Systems, wozu auch Arbeitsverwaltung, wozu Beratungseinrichtungen gehören und wozu vor allen Dingen auch die Verantwortung der entlassenden Firma gehört. Also es gibt Konzepte, die relativ weit entwickelt sind, auch in verschiedenen europäischen Ländern, auch in Deutschland, wo die entlassenden Firmen dahingehend Verantwortung übernehmen, dass sie sagen, wir fühlen uns auch über den Zeitpunkt der Entlassung hinaus verantwortlich für die Beschäftigten, die lange für uns gearbeitet haben, und wir versuchen, mit qualifizierter, auch externer Beratung diesen Menschen wieder in Beschäftigung zu verhelfen. Eine solche Form des sozialen Geleitschutzes kann die Situation erheblich erleichtern für den Einzelnen und kann sie vor allen Dingen… kann ihm den Eindruck vermitteln, die Gesellschaft hat Verantwortung auch übernommen dafür, dass ich jetzt arbeitslos geworden bin, es ist nicht nur alleine mein eigenes Problem.

Wuttke: Aber dass Menschen, die arbeitslos geworden sind, es auf sich persönlich beziehen und möglicherweise auch die Schuld bei sich selbst suchen, das ist doch durchaus normal, ja?

Kieselbach: Bei einer Massenentlassung wie zum Beispiel bei Quelle wird niemand auf die Idee kommen und sagen, es liegt an mir selbst, dass ich hier arbeitslos geworden bin. Vielleicht wird er sich sagen, ich hätte früher schon eine andere Entscheidung treffen müssen, vielleicht früher mich schon nach einem anderen Job umsehen müssen, aber dennoch ist es so, dass Menschen, die bei einer Massenentlassung entlassen worden sind, nach einer bestimmten Dauer der Arbeitslosigkeit auch in der Gefahr sind, sich selbst die Schuld zu geben, dass sie sagen, andere haben schon längst wieder einen neuen Job bekommen, ich aber nicht, also muss das auch an mir liegen. Und diese Selbstschuldzuweisung kann natürlich auch gerade eine Quelle von depressiven Störungen und depressiven Verstimmungen sein und damit auch eine Barriere zum Wiedereinstieg in eine neue Beschäftigung darstellen.

Wuttke: Thomas Kieselbach vom Institut für Psychologie der Arbeit an der Universität Bremen über den Druck von Arbeitnehmern, die plötzlich auf der Straße stehen.