Psychiatrie

Nie mehr Täter werden

Flur mit geöffneten Türen der Patientenzimmer in der Maßregelvollzugsklinik für psychisch kranke Straftäter in Dortmund
Flur mit geöffneten Türen der Patientenzimmer in der Maßregelvollzugsklinik für psychisch kranke Straftäter in Dortmund © dpa / picture alliance / Bernd Thissen
Von Volkart Wildermuth · 11.06.2015
Die forensische Psychiatrie ist eine stark wachsende Branche. In der Therapie von Schwerverbrechern geht es um Impulskontrolle, Abstinenz, Empathie. Aber auf lange Sicht ist es für die Patienten entscheidend, eine Perspektive für das Leben draußen zu finden.
Die Tür in den Maßregelvollzug schließt sich und sie wird sich so bald nicht mehr öffnen. Während die psychiatrischen Kliniken Betten abbauen, ist die forensische Psychiatrie eine Wachstumsbranche. In den 1970er-Jahren ordneten Richter bei rund 4400 Menschen Maßregelvollzug an. 2011 waren es mehr als doppelt so viele.
Vor dem Einzug in die forensische Psychiatrie steht ein Gutachten. Die Psychiater müssen dabei zwei Fragen klären: War der Angeklagte unfähig, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln? Und: Ist er gefährlich?
Nahlah Saimeh: "Man kann nicht sagen, Herr Müller oder Herr Maier wird auf jeden Fall wieder rückfällig werden mit dem Delikt x oder y. Das geht nicht. Das wäre Wahrsagerei. Man kann aber sagen, dass eine Person ein bestimmtes Risikoprofil hat."
Dieses Risikoprofil stützt sich erst einmal auf Statistik, so Nahlah Saimeh, Ärztliche Direktorin des LWL-Zentrums für Forensische Psychiatrie in Lippstadt. Also auf Vorstrafenregister, kriminelle Vielseitigkeit, frühere Übergriffe, Drogenkonsum, Familienverhältnisse, psychiatrische Diagnosen und sexuelle Präferenzen. All diese Daten ordnen den Täter einer Gruppe mit bekannten Rückfallwahrscheinlichkeiten zu. In das Gutachten fließen dann noch individuelle Faktoren mit ein, die das durchschnittliche Rückfallrisiko beeinflussen. Am Ende entscheidet aber das Gericht, darauf legt Nahlah Saimeh Wert:
"Ich weise auf Ressourcen und auf Risiken hin und diese Gewichtung stelle ich dar, damit die Justiz auf dieser Basis eines solchen Gutachtens sich selbst eine eigene Meinung machen kann. Das ist mein Auftrag als Sachverständiger und nicht der Auftrag, juristische Entscheidungen vorwegnehmen."
Der Patient hat Anspruch auf Therapie
In psychiatrischen Klinken dauert der Aufenthalt im Durchschnitt 24 Tage. Wer dagegen nach § 64 zwangsweise in eine Entziehungsanstalt eingewiesen wird, ist meist erst nach zwei Jahren wieder frei. Und wer nach § 63 als schuldunfähig, aber dennoch als Gefahr für die Allgemeinheit gilt, der bleibt durchschnittlich sieben Jahre in der geschlossenen Anstalt. Dort aber gilt er nicht als Gefangener, sondern als Patient mit Anspruch auf Therapie. Aber wer zwangsweise hinter Gittern ist, der sieht im Psychiater weniger den Helfer als den Wärter.
Das zumindest ist die Erfahrung von Professor Peer Bricken von der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf:
"Motivieren müssen wir sie trotzdem. Und das versuchen wir, indem wir nicht von Anfang an sie mit den unangenehmsten Themen konfrontieren, zum Beispiel mit ihren Straftaten, sondern dass wir erst einmal versuchen, die Leute zu motivieren zu verstehen, was auch der Vorteil von Therapie sein kann."
Es kann Jahre dauern, bis ein Insasse einer forensischen Psychiatrie bereit ist, an den Gruppen- und Einzelgesprächen teilzunehmen. Die Therapie ist nicht einfach. Viele der Verurteilten sind schizophren, leiden an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung oder sind pädophil.
Nahlah Saimeh, forensische Psychiaterin und Ärztliche Direktorin im Zentrum für Forensische Psychiatrie in Lippstadt-Eickelborn
Nahlah Saimeh, forensische Psychiaterin und Ärztliche Direktorin im Zentrum für Forensische Psychiatrie in Lippstadt-Eickelborn© dpa / picture alliance / Horst Galuschka
In der Therapie geht es um Impulskontrolle, um Abstinenz, um Empathie. Aber auf lange Sicht ist es für die Patienten entscheidend, eine Perspektive für das Leben draußen zu finden.
Ein Problem der Therapie liegt in der dünnen Datenlage, sagt Professor Jürgen Müller. Er ist Chefarzt der Asklepios Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie am Fachklinikum Göttingen:
"Wir übertragen sehr viel unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Allgemeinpsychiatrie auf die Patienten im Maßregelvollzug. Das sind aber zum Teil andere, zum Teil zentral andere Patienten. Die haben zum Teil Störungsbilder, die im allgemein psychiatrischen Setting kaum vorkommen. Die werden dann häufig jahrelang untergebracht und behandelt und kaum mehr entlassen."
Testosteronblocker für die "Untergebrachten"
Wissenschaftliche Studien in der forensischen Psychiatrie sind in Deutschland aber nicht erlaubt. Die Patienten sind "Untergebrachte", deshalb geht der Gesetzgeber davon aus, dass sie sich nicht frei für oder gegen die Teilnahme an einer Studie entscheiden können. Das schützt sie vor Druck von Seiten der Forscher, führt aber auch dazu, dass die Ärzte selbst Testosteronblocker einsetzen, ohne genau über deren Potential Bescheid zu wissen.
Jürgen Müller: "Für mich ist das ein ganz schwieriges Dilemma, weil wir eine Behandlung einsetzen, die sehr starke Nebenwirkungen hat. Das setzt nach meinem ärztlichen Ethos auch voraus, dass wir wissen, was wir damit tun, welchen Effekt wir damit erzielen und wenn wir dies dann nicht systematisch untersuchen können, dann werden wir da im Regen stehen gelassen. Das ist meines Erachtens sicher änderungsbedürftig."
Regelmäßig werden die Patienten in der forensischen Psychiatrie begutachtet. Haben sie problematische Persönlichkeitsanteile besser im Griff, gibt es mehr stabilisierenden Rückhalt? Zeigt sich eine positive Entwicklung, erhalten die Patienten nach und nach größere Freiräume. Erst überwachte Ausführungen, später dann Freigang. Irgendwann steht dann die Entscheidung über die Entlassung an. Selbst wenn das Gutachten positiv ist, öffnet es nicht automatisch die Tür der forensischen Psychiatrie.
Nahlah Saimeh: "Es gibt durchaus Fälle, wo wir uns auch als Psychiater fragen, ob die Dauer des Aufenthaltes überhaupt noch angemessen ist im Vergleich zur Schwere der Straftat."
Die Rückfallquote? Nur fünf bis zehn Prozent
Zuständig ist die Justiz. Bei unterschiedlichen Fällen von sexuellem Missbrauch von Kindern hielten verschiedene Richter in Nordrhein-Westfalen etwa die Grenze der Verhältnismäßigkeit nach acht, elf und 19 Jahren für überschritten. Ein Exhibitionist kam nach 26 Jahren frei, ein Mann nach mehreren Fällen von vorsätzlichem Vollrausch erst nach 17 Jahren. Richter bewerten die Sicherheit der Gesellschaft als ein hohes Gut, entsprechend hoch sind die Hürden vor einer Entlassung.
Peer Bricken: "Viele glauben, dass 40, 50 Prozent der Sexualstraftäter rückfällig werden, es sind aber eher fünf bis zehn Prozent über einen Zeitraum von zehn Jahren."
Die Therapie kann die Rückfallquote noch einmal um rund ein Drittel senken, erklärt Peer Bricken. Das zeigt ein Überblick über die internationalen Erfahrungen. Die guten Zahlen hängen allerdings auch damit zusammen, dass besonders gefährliche Menschen, wie etwas Psychopathen, die getötet haben, gar nicht entlassen werden. Die anderen müssen nach der Entlassung weiterhin an Therapien teilnehmen. Das hält Nahlah Saimeh für entscheidend für den Erfolg:
"Einfach weil Sie, wenn Sie Menschen in engeren Abständen sehen, sehr viel besser ein Risikoprofil erstellen können. Sie können sehr viel besser auf Lebenskrisen reagieren und insofern sind forensische Nachsorgeambulanzen eigentlich aus dem psychiatrischen Versorgungsnetz von ehemals forensisch untergebrachten Patienten nicht mehr wegzudenken."
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