Psychiatrie-Doku "12 Tage"

Blick in gebrochene Seelen

Psychiatrie-Patientin: Szene aus dem Film "12 Tage" von Raymond Depardon
Psychiatrie-Patientin in dem Dokumentarfilm "12 Tage" von Raymond Depardon. © Grandfilm
Von Jürgen König · 09.06.2018
Eine psychiatrische Klinik in Lyon: Hier hat der bekannte französische Filmemacher Raymond Depardon zwangseingewiesene Patienten bei ihrer richterlichen Anhörung begleitet. Seine Dokumentation "12 Tage" zeigt psychisches Leid als etwas zutiefst Menschliches.
Zu Beginn des Films fällt eine Tür ins Schloss: Die Kamera blickt in den düsteren Korridor einer psychiatrischen Klinik. Zehn Patienten wird der Zuschauer kennenlernen - in Gesprächen mit zehn Richtern, geführt in hell erleuchteten Besprechungszimmern.
Filmausschnitt:
- "Ich bin als Richterin bestimmt worden, um über Ihr Verfahren zu entscheiden."
- "Was für ein Verfahren, das ist doch kein Gericht hier, ich war noch nie vor Gericht!"
- "Nein, das ist hier auch kein Gericht. Sie wurden hier zwangseingewiesen."
- "Ich? Hier?"
- "Zwangseingewiesen, so wird das genannt."
Zwangseingewiesene Patienten haben in Frankreich das Recht, innerhalb von zwölf Tagen von einem Richter angehört zu werden: Er entscheidet, ob die Zwangseinweisung rechtmäßig erfolgte oder nicht. Dieses Verfahren durchlaufen in Frankreich jedes Jahr fast 100.000 Menschen - in den allermeisten Fällen entschieden die Richter, dass ihre Einweisung rechtmäßig war.
Raymond Depardon hat in einer psychiatrischen Klinik in Lyon gedreht - als erster Filmemacher überhaupt bekam er Zugang zu diesem Verfahren. Er wohnte den Gesprächen bei, filmte sie und verdichtete dann Ausschnitte daraus zu einem Film - in langwieriger Schnittarbeit, erzählte Raymond Depardon in einem Interview des Senders France Inter:
"Es brauchte meine ganze Erfahrung, um diese Menschen zu filmen. Man muss großen Respekt haben: Die ganze Situation hat etwas Pathetisches, viele der Patienten wirkten sehr sensibel, manche hypersensibel, viele mit einem ganz festen, einem fixen Blick, manche haben nie mit den Augenlidern geblinzelt. Und dieses Gegenüber mit den Richtern hatte oft etwas, ja … - Surrealistisches. Vielen Menschen begegnen wir täglich, in öffentlichen Verkehrsmitteln zum Beispiel, bei denen man das Gefühl hat, dass sie sehr zerbrechlich sind. Ich glaube, das betrifft sehr viele in unserer Gesellschaft, jeder kann von psychischen Krankheiten betroffen sein."
Die Patienten, das sind: eine Frau, die versucht hat, sich das Leben zu nehmen; ein Mann, der den Richter immer nur bittet, seinen Vater zu beruhigen; ein Mann, der sich nicht mehr wirklich konzentrieren kann, weil er Stimmen hört, die von einem elektrischen Stuhl ausgehen; eine Frau, die voller Schmerz ist und nichts mehr will, nur noch: sterben.

"Bei vielen hat es mit einem Burn-out angefangen"

Die Richter sind: Juristen ohne psychiatrische Zusatzausbildung, sie befragen ihre Gegenüber nach Alltäglichem und Naheliegendem, um sich ein Urteil darüber bilden zu können, ob die Patienten eine Gefahr für sich oder ihre Umwelt darstellen. Der Film kommentiert die Anhörungen mit keinem Bild, mit keinem Wort - obwohl Raymond Depardon natürlich Schlüsse aus dem Erlebten gezogen hat:
"Bei vielen in diesen Kliniken hat es mit einem Burn-out angefangen, man kennt das – und so wirft der Film auch einen Blick auf eine Gesellschaft, die wir 'normal' nennen: Ich habe das Bild eines Frankreichs gefunden, das auch im Alltag unglaublich präsent ist! Burn-out, Depressionen, 'Arbeitsdepressionen', die tägliche Gewalt, auch auf der Straße zum Beispiel – es ist ein Film geworden, der jeden etwas angeht."
Innenhof eines psychiatrischen Krankenhauses: Szene aus dem Film "12 Tage" von Raymond Depardon
Innenhof eines psychiatrischen Krankenhauses: Szene aus dem Film "12 Tage" von Raymond Depardon© Grandfilm
Die meisten Patienten erzählen sehr sachlich von sich und ihrem Leben. Nur im Verlauf einzelner Gespräche treten eigentümliche, unter Umständen krankhafte Züge hervor, die Raymond Depardon ohne jeden Voyeurismus zeigen kann: als etwas "Menschliches".
"Man muss ein Format, einen guten Rahmen finden, gerade die kranken Menschen wirklich als 'schön' zu fotografieren, sie so 'schön' wie möglich zu filmen – um ihrer Misere nicht noch eine weitere hinzuzufügen."
Auch wenn Depardon nichts kommentiert, wirft er mit seinem Film doch die großen Fragen auf – nicht zuletzt auch, weil das Klinikpersonal nicht zu Wort kommt. Es geht Depardon weniger um die Zustände in der französischen Psychiatrie als um das Fragen nach Humanität. Was macht den Menschen aus? Was ist normal, was ist verrückt?
"Der Weg vom Menschen zum wahren Menschen geht über den Verrückten", zitiert Depardon Michel Foucault. Die Richter erleben wir ausnahmslos als einfühlsame Fragensteller und Zuhörer – doch ist es angemessen, ist es "gerecht", dass die Juristen in einem bürokratisch strukturierten Verfahren einzig aufgrund ihrer Gesprächseindrücke und der ärztlichen Akten, die sie mangels therapeutischer Fachkenntnisse nicht beurteilen können, Entscheidungen von solcher Tragweite treffen sollen? Der Film kritisiert das Procedere nicht, es ist auch in Frankreich nicht umstritten – aber das Fragwürdige solcher Verfahren eröffnet sich dem Zuschauer unmittelbar.
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