Psychiatrie-Chefarzt Arno Deister

"German Angst gibt es nicht"

Ein Graffiti mit dem Wort "Angst" auf einer Backsteinwand eines Hauses
"Wir haben weniger vor den Dingen selbst Angst, sondern vor dem, was wir darüber denken", erklärt Arno Deister, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. © dpa picture alliance/ Wolfram Steinberg
Arno Deister im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 05.05.2017
Soziale Ängste treten im Gegensatz zu klassischen Ängsten vor Höhe oder dem Fliegen hierzulande stärker auf als früher, erklärt Arno Deister. Eine spezielle deutsche Angst gebe es aber nicht, so der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie.
Welche Ängste die Menschen in Deutschland aktuell beschäftigen, habe viel "mit der gesellschaftlichen Situation, mit der politischen Situation und auch mit den Menschen bei uns" zu tun, sagt Arno Deister. "Wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie Kontrolle verlieren - und das ist relativ häufig heute so -, dann treten Ängste auf."
Heute gebe es Angst vor Terror, vor Veränderung, vor Fremden und vor Einsamkeit. Soziale Ängste träten im Gegensatz zu klassischen Ängsten vor Höhe oder dem Fliegen stärker auf als früher. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie gibt dabei zu Bedenken, dass es zwar eine gewisse angeborene Bereitschaft für Angst gebe, dass Angst aber auch stark gelernt würde. Dabei sei Angst vom Prinzip her etwas Normales, etwas, das uns schütze.

"Angst entsteht im Kopf"

"Wir haben weniger vor den Dingen selbst Angst, sondern vor dem, was wir darüber denken", erklärt Deister. "Angst entsteht im Kopf." Hier würde dann auch eine psychotherapeutische Behandlung ansetzen. Man könne im Denken etwas ändern, meint der Chefarzt des Zentrums für Psychosoziale Medizin am Klinikum Itzehoe.
Eine "German Angst" gibt es aus seiner Sicht nicht. Es gebe schon besondere Ängste, die sich auf die aktuelle Situation bezögen, aber im internationalen Vergleich sei Deutschland kein Land, das besonders von Ängsten geprägt sei.

Das gesamte Interview:
Liane von Billerbeck: Wir wollen jetzt über Angst reden, Angst in einem Land wie unserem, das doch ein friedliches, ein reiches, von Katastrophen eher verschontes Land ist. Doch so einfach ist es nicht mit der Angst, denn dass der soziale Friede nicht halten könnte, wir von neuer digitaler Technik überrollt werden oder tatsächlich Opfer von Terror und Gewalt werden könnten, all das ist ja angstbesetzt. In Berlin treffen sich heute Psychiater und Psychotherapeuten, um mit Angstforschern darüber zu sprechen, ob Deutschland ein Ort der Angst ist. Und wir wollen das auch tun, und meine Fragen richten sich an Professor Arno Deister, der nicht nur Chefarzt des Zentrums für Psychosoziale Medizin am Klinikum Itzehoe ist, sondern auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Er nimmt an diesem Symposium teil und ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!
Arno Deister: Schönen guten Morgen, Frau von Billerbeck!
Billerbeck: "Deutschland – ein Ort der Angst" – diese Überschrift klingt ziemlich dramatisch. Haben Sie, die Psychiater und Psychotherapeuten vermehrt in Ihrer Praxis mit Angst zu tun?
Deister: Das ist kein so ganz einfaches Thema, das ist richtig. Und ich glaube, wie so oft bei diesem Thema ist die Antwort ja sowohl ein Ja als auch ein klares Nein. Ich glaube, man kann sagen, und daher kommt auch diese Überschrift, Deutschland ist kein ganz spezieller Ort von Angst. Aber Angst ist sicherlich für uns ein ganz relevantes Thema in Deutschland, und das hat sicherlich viel mit unserer gesellschaftlichen Situation, mit der politischen Situation, mit den Menschen bei uns zu tun. Und die Frage ist ja oft, nimmt Angst zu. Aber das ist wahrscheinlich nicht so, aber Ängste verändern sich, und Ängste sind je nach äußerer Situation ganz unterschiedlich.
Billerbeck: Was heißt "Ängste verändern sich"? Wie waren sie früher, wie sind sie jetzt?
Deister: Wir haben heute schon, ich sage mal, Angst, wir haben besonders Angst vor Terror, wir haben Angst vor Veränderung, wir haben Angst vor Fremdem, wir haben Angst vor Einsamkeit. Wir haben natürlich auch noch die Ängste, die wir früher hatten. Wir haben Ängste vor Höhe oder vorm Fliegen oder vor Ähnlichem. Aber soziale Ängste, Ängste in der Umgebung, das ist schon etwas, was uns heute stärker prägt als früher.
Billerbeck: Welche Ursachen gibt es dafür?
Deister: Man muss ja zunächst mal sagen, dass Angst erstmal was ganz Normales ist. Angst hat ja eine Alarmfunktion. Angst ist etwas, was uns schützen soll. Angst ist ja erstmal nicht krankhaft, sondern es gäbe den Menschen nicht, wenn er nicht auch Angst hätte. Und das ist sicherlich etwas, wo sich Ängste anpassen an äußere Situationen, und wenn sich Rahmenbedingungen verändern und Menschen den Eindruck haben, dass sie über bestimmte Dinge die Kontrolle verlieren, dass sie nicht mehr das alles im Griff haben – und das ist relativ häufig heute so –, dann treten auch Ängste auf, dann werden Ängste stärker.
Billerbeck: Aber diese neuen Anforderungen an uns betreffen ja sehr viele Menschen. Ich vermute aber, dass Sie auf die Frage, ob es Menschen gibt, die angstanfälliger sind als andere, auch wieder mit "Ja, aber …" oder "Ja und nein …" antworten.

"Eine Bereitschaft für die Angst wird tatsächlich auch angeboren"

Deister: Es gibt schon Menschen, die anfälliger sind. Ängste werden natürlich auch ein Stück – also eine Bereitschaft für die Angst wird tatsächlich auch angeboren und liegt in uns drin, da gibt es schon Unterschiede. Aber Angst wird eben auch sehr stark erworben, Angst wird gelernt, Angst hat ganz viel damit zu tun, was ich mir von anderen Menschen angucke. Aber Angst hat vor allen Dingen viel damit zu tun, was so meine Fähigkeiten sind, mich anzupassen, mich einzustellen auf Situationen. Und da gibt es schon Unterschiede zwischen den Menschen. Die gibt es immer schon, aber die wirken sich heute oft ganz besonders aus.
Billerbeck: Nun reden wir die ganze Zeit über Angst und haben den Begriff noch gar nicht geklärt. Was ist denn überhaupt eine Angsterkrankung?
Deister: Angst hat zunächst mal, das muss man vielleicht allgemein noch mal sagen, Angst hat einfach einen seelischen Aspekt, wir erleben Angst als Gefühl, Angst hat einen körperlichen Aspekt, wir spüren es körperlich. Angst ist etwas, was unser Verhalten beeinflusst. Am liebsten möchten wir weg aus einer Situation, wenn Angst da ist. Und das ist erstmal diese normale Situation. Und wenn das jetzt zu massiv wird, wenn das zu langanhaltend ist, aber vor allen Dingen, wenn es diese Schutzfunktion verliert, wenn es uns völlig blockiert, dann sprechen wir von einer Angsterkrankung. Und Angsterkrankungen können auftreten, indem wir Angst haben vor ganz bestimmten Dingen in unserer Umwelt, vor der Höhe, vorm Fliegen, vor Wunden, und uns dann zurückziehen und uns nicht mehr diesen Situationen aussetzen, oder es gibt Angsterkrankungen, wo man vor allem Angst hat, generalisierte Angst, oder wenn sie so richtig anfallsartig auftritt, nennen wir sie Panikstörung. Das sind dann behandlungsbedürftige Erkrankungen.
Billerbeck: Oft gehen ja aber Leute mit einem körperlichen Symptom zum Arzt, also Herzrasen, Herzbeschwerden, landen dann bei einem Allgemeinmediziner, und da steckt möglicherweise was ganz anderes dahinter. Woran merkt man denn, dass Angst die Ursache ist?
Deister: Das ist nicht so einfach, weil Angst, ich sag mal, sich auch häufig versteckt vor einem selbst, vor dem Menschen selbst, der das Problem hat, aber auch vor jemand anderem, der es zu diagnostizieren versucht. Was völlig richtig ist, ist, dass Angst eben dazu führt, dass körperliche Symptome auftreten, wie wir sagen, unspezifische Symptome, also Verspannungen, Schmerzen, andere funktionelle Störungen. Und dann denkt man – ich sage jetzt mal ein Beispiel, Rückenschmerzen –, es ist eigentlich die körperliche Erkrankung. Dass dann Angst dahintersteht, das kriegt man eigentlich nur raus, wenn man gezielt danach untersucht, wenn man danach fragt, wenn man mit dem Menschen darüber redet, wenn man versucht, die Situation herauszukriegen, in denen das auftritt. Und dann wird die Angst oft doch deutlich. Dann muss man aber auch reagieren, das ist dann ein ganz entscheidender Punkt.
Billerbeck: Reagieren heißt Behandeln. Wenn man also bei Ihnen und Ihren Kollegen landet, was können Sie tun?
Deister: Reagieren heißt Behandeln, und das ist schon mal das Wichtige, dass man Angst behandeln kann. Ich sag mal, wir sagen ganz allgemein, das ist etwas, was wir schon sehr lange wissen, dass Angst im Kopf entsteht. Angst ist eine bestimmte Art, auf Dinge zuzugehen. Wir haben oft weniger vor den Dingen selbst Angst, sondern vor dem, was wir darüber denken, vor den Erwartungen.

"Man kann natürlich im Denken etwas ändern"

Billerbeck: Wir haben vor der Angst Angst.
Deister: Wir haben vor der Angst Angst, ganz häufig, und das ist häufig ein Problem, weil das ein Teufelskreis ist. Und wenn wir Angst, also bestimmte Erwartungen haben, dann kann man natürlich im Denken etwas ändern. Das ist das, was man in der Psychotherapie macht. Man lernt etwas über sich, man lernt etwas über diese Situation und kann dann ganz anders mit diesen Situationen und mit der Angst umgehen. Das ist eines. Es gibt natürlich viele andere Dinge. Es gibt Entspannungstechniken, die man machen kann, man kann Dinge im Einzelgespräch, in der Gruppe machen. Es gibt auch spezielle Medikamente. Da muss man allerdings vorsichtig sein, die sind in der Regel nur in ganz bestimmten Situationen und nur mit ärztlicher Rücksprache einzusetzen. Also man kann schon ziemlich viel dagegen tun.
Billerbeck: Letzte Frage, die richtet sich nach der German Angst, nach der Besonderheit der deutschen Angst. Was sagt der Psychiater dazu?
Deister: Wir glauben, eine spezielle deutsche Angst, eine German Angst, die gibt es aus unserer Sicht so nicht. Aber na ja, Deutsche sind ja auch Menschen, oder Menschen, die in Deutschland leben, die eine spezielle Art haben, mit sich umzugehen. Es gibt auch häufig schon besondere Ängste, und die beziehen sich immer auf die aktuelle Situation. Aber im internationalen Vergleich ist es jetzt nicht so, dass Deutschland ein Land wäre, das also nur von Ängsten geprägt ist. So ist es dann zum Glück dann doch nicht.
Billerbeck: Also, Sie können diesen Ausdruck gar nicht bestätigen?
Deister: Also nicht als ein spezieller Ausdruck. Das ist ein Ausdruck, der viel verändert hat, weil wir haben angefangen, uns mit unseren Ängsten auseinanderzusetzen bei diesem Begriff. Aber nein, also eine spezielle deutsche Angst, die andere nicht kennen, nein, die gibt es so nicht.
Billerbeck: Das war die gute Nachricht nach diesem Gespräch über Deutschland als Ort der Angst. Darüber sprechen heute Psychiater und Angstforscher in Berlin. Ich hab darüber gesprochen mit Arno Deister, dem Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Herr Professor Deister, ich danke Ihnen!
Deister: Ich danke Ihnen auch!
Billerbeck: Und wünsche Ihnen einen schönen Tag!
Deister: Danke sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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