Prozentrechnung beim Wein

Wie hoch ist eigentlich der%anteil der Wahrheit im Wein? Falls er sich am Alkoholgehalt orientieren sollte, muss ehrlich geklärt werden, warum dieser so schwankt.
Oans – zwoa – gsuffa

Haben Sie heute schon getrunken? Nein? Wenn Ihnen die Gesundheit Ihres Herzens wirklich am selbigen liegt, können Sie doch nicht die wirksamste Maßnahme zur Prävention des Infarktes einfach ausschlagen: Ordentlich einen picheln! Nach Ansicht von US-Herzspezialisten, genauer dem American College of Cardiology, könnten die Amerikaner ihr Risiko für Herzinfarkt verringern, wenn sie ausreichend Bier, Wein oder Schnaps tränken. Endlich mal was Positives: Zu Frühstück vor dem Kaffee erstmal eine Halbe; statt Margarine aufs Brötchen einen Kurzen hinter die Binde. Zum Wohl! A votre sante! Nastrowje!

So neu ist diese „Schnaps-Idee“ nun auch wieder nicht. Der griechische Arzt Hippokrates, der Begründer der Medizin als Wissenschaft, hatte bereits um 400 v. Chr. den Wein zum Heilmittel ernannt und seiner Klientel empfohlen. Nicht nur er sondern praktisch alle bedeutenden Ärzte lobten das alkoholische Produkt als Arznei für vielerlei Malaisen. Insbesondere der berühmte Paracelsus ("nur die Dosis macht das Gift") ging mit „gutem“ Vorbild voran: Er hielt den Wein in so hohen Ehren, dass er sein medizinisches Hauptwerk bisweilen seinen Schülern nur noch lallend diktieren konnte. Ein Werk, das in der Folge ganzen Generationen von Ärzten als Lehrbuch diente.

Nun muss nicht alles richtig sein, was Mediziner raten. Schließlich glaubte der bedeutende Paracelsus nicht nur an den Wein sondern auch daran, dass Hexen auf Besenstielen durch die Lüfte reiten. Die einst von Ärzten üblicherweise verordneten Mengen schossen wohl auch über das Ziel hinaus. So lässt sich alten Rechnungsbüchern des Darmstädter Elisabeth-Hospitals aus dem Jahr 1871 folgendes entnehmen: Innerhalb eines halben Jahres verkonsumierten die insgesamt 755 Patienten auf ärztliche Weisung viereinhalbtausend Flaschen Weißwein, gut sechstausend Flaschen Roten neben erklecklichen Mengen an Port, Champagner und anderen Spezialitäten. Und gehen wir nochmals ein Jahrhundert zurück, dann finden wir in Deutschland sogar Gesetze, die das Branntweintrinken vorschrieben, um die Gesundheit seiner Bürger zu stärken. Ein klassischer Fall von Prävention.

Nachdem bisher aller Alkohol des Teufels war – ohne damit irgendetwas gegen seinen Konsum bewirkt zu haben, ist Deutschlands Präventivmedizin wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt. Denn inzwischen bestätigen auch hiesige Forschungsergebnisse den Rat der US-Kollegen. Natürlich sprechen unsere Experten darüber eher mit vorgehaltener Hand, verstecken sie wissenschaftliche Resultate ähnlich verschämt vor dem Publikum als sei es harte Pornographie, die die mühsam erlernte Ess-Moral der Kundschaft zutiefst untergraben könnte. So zeigte sich bei den Augsburger Teilnehmern der großen MONICA-Studie der Weltgesundheitsorganisation, dass Männer mit täglich 20 bis 40 Gramm Alkohol am längsten leben. Erst ab 80 Gramm war die Sterblichkeit von Abstinenzlern erreicht. Im Klartext: Männer leben erst ab einer Flasche Wein täglich (!) so ungesund, wie diejenigen, die Alkohol generell verabscheuen. Die optimale Dosis gilt bei manchen Experten als sicherer Nachweis von Alkoholismus.

Aus den letzten 25 Jahren liegen über 60 Studien vor, die belegen, dass Menschen, die regelmäßig trinken, länger leben als solche die gänzlich auf Alkohol verzichten. Die Beweiskraft stammt vor allem aus „prospektiven“ Analysen. Gewöhnlich wird nur rückblickend untersucht, was Menschen vor fünf, zehn oder zwanzig Jahren behaupten gegessen und getrunken zu haben. Diese Zahlen werden mit aktuellen Gesundheitsdaten statistisch korreliert. Ein weites Feld für Irrtümer und Manipulationen. Bei „prospektiven“ Studien wird von Anfang an über längere Zeiträume beobachtet und gemessen. Man ist an die erhobenen Daten gebunden und kann sie nicht nachträglich durch „passendere“ Datensätze ersetzen. Da sie die Probe auf's Exempel sind, gelten sie als „Beweis“, zumindest wenn gleich lautende Ergebnisse erzielt werden. Genau das trifft für den Alkohol zu – und es gibt bis heute nicht eine Empfehlung zur „gesunden Ernährung“, die von so vielen Studien gestützt würde.

Natürlich streiten sich jetzt die Winzer mit den Whiskydestillen und Weißbierbrauereien darum, wer nun das gesündeste Getränk offeriere. Positive Wirkungen finden sich praktisch überall, egal ob Schnaps, Wein oder Bier. Ein Ergebnis fällt bei einer detaillierten Analyse allerdings auf: Die günstige Wirkung auf die Lebenserwartung konnte nur bei denen gesichert werden, die regelmäßig trinken, nicht aber bei jenen, die sich in unregelmäßigen Abständen vollaufen ließen und so auf ihr Quantum kamen. Offenbar nutzt nur das Glas, das zum oder nach dem Essen genossen wird. Also genießen Sie einen guten Tropfen – und wie immer mit Verstand. Ganz egal, welchen Unsinn die Ernährungsmedizin wieder herausgefunden haben will.

Entnommen aus dem Catering Management Magazin: 1998/H.9