Ohr und Auge des Protokolls im Bundestag

Ein einziges Zeichen für das Wort „Bundeskanzler“ – so funktioniert Stenografie: Mit wenigen Strichen lässt sich Gesprochenes blitzschnell mitschreiben. Eingesetzt wird das unter anderem bei Gerichten, Behörden – und im Deutschen Bundestag.
Im Bundestag kann es manchmal ganz schön hitzig zugehen, Zwischenrufe und Wortwechsel unterbrechen die Reden von Abgeordneten. Trotzdem wird alles festgehalten - wer, wann, was genau gesagt hat - und kann später auch nachgelesen werden. Dafür sorgt der Stenografische Dienst des Bundestags. Die Spezialistinnen und Spezialisten notieren mit einer Schnellschrift - der Stenographie - jedes Wort. Und das besser als jede KI-Software.
Inhalt
Wie funktiontiert Stenografie?
Stenografie – kurz Steno – ist ein Schriftsystem, das gesprochene Sprache komprimiert und somit das Mitschreiben enorm beschleunigt.
Dabei gibt es unterschiedliche Schwierigkeitsstufen. Die Verkehrsschrift ist für den Alltag geeignet, die Eilschrift ermöglicht eine höhere Schreibgeschwindigkeit. Am anspruchsvollsten ist die Redeschrift, die vor allem in Parlamentsdebatten zum Einsatz kommt. Erfahrene Stenograf:innen können damit bis zu 500 Silben pro Minute schreiben. Zum Vergleich: Mit normaler Handschrift sind es gerade einmal rund 60.
Das System konzentriert sich vor allem auf die Mitlaute – also Konsonanten wie k, m oder t. Vokale wie a, e, i, o und u ergeben sich aus der Verbindung der Konsonanten untereinander. Um die Geschwindigkeit zu erhöhen, gibt es für häufige Wörter spezielle Kürzel. Diese sind stark verkürzte Zeichen, die in vielen Fällen nur aus einem einzigen Strich bestehen.
Warum benötigt man in Zeiten von KI und Transkriptionssoftwares noch Stenografie?
Auch im Zeitalter von KI und automatischer Transkription ist Stenografie im Bundestag unverzichtbar. Zwar können automatische Systeme Gesprochenes mitschneiden und verschriftlichen. Aber: Zwischenrufe, Beifall oder andere Reaktionen im Plenarsaal lassen sich technisch oft nicht eindeutig zuordnen. Auch Dialekte, Akzente oder undeutliche Aussprache bringen automatische Systeme schnell an ihre Grenzen.
Stenograf:innen erkennen nicht nur, was gesagt wird, sondern auch von wem – und wann. Das Stenogramm liefert in solchen Fällen Klarheit: Es zeigt, an welcher Stelle ein Zwischenruf fiel, wer ihn geäußert hat und welche Reaktionen folgten – Beifall, Gelächter, Unruhe. Auch sprachliche Unebenheiten, Versprecher oder Korrekturen lassen sich darin markieren.
Wie wird man Stenograf:in beim Bundestag?
Stenograf:in im Bundestag wird man nicht über eine klassische Ausbildung, sondern über Qualifikation und Können. Vorausgesetzt wird ein abgeschlossenes Hochschulstudium – also in der Regel ein Master, ein Diplom oder ein gleichwertiger Abschluss. Wer nur einen Bachelor hat, kann studienbegleitend im Stenografischen Dienst mitarbeiten – der Einstieg in den Beruf ist dann über Praxiserfahrung möglich.
Entscheidend ist aber vor allem eines: Stenografiekenntnisse auf hohem Niveau. Dazu kommen eine solide Allgemeinbildung, Sprachgefühl, ein Blick für politische Zusammenhänge – und Ausdauer. Denn die Sitzungen im Bundestag können lang werden. Wer hier mitschreibt, muss auch körperlich durchhalten.
Wie bereiten sich die Stenograf:innen auf die Plenarsitzungen vor?
Die Vorbereitung der Bundestagsstenograf:innen beginnt lange vor der eigentlichen Sitzung.
Alle Stenograf:innen trainieren regelmäßig – mit einer Software namens PSI: Parlamentariersuche innovativ. Die Anwendung kombiniert Datenbank und Quiz: Wer gehört zu welcher Fraktion? Wer sieht wie aus? Wer sitzt wo? Die Stenograf:innen prägen sich Gesichter, Namen und Stimmen ein – damit sie im Moment des Zwischenrufs sofort wissen, wer gerade spricht.
In sitzungsfreien Wochen steht Stenografietraining an. Die Geschwindigkeit muss gehalten, neue Begriffe müssen integriert werden. Denn: Sprache verändert sich. „Coronapandemie“ war zum Beispiel ein Begriff, der plötzlich in den Wortschatz aufgenommen werden musste.
Zur Vorbereitung gehört auch: lesen, lesen, lesen. Wer politische Debatten mitschreibt, muss den Kontext verstehen – und aktuelle Themen kennen.
Was passiert, bis das Plenarprotokoll vorliegt?
Bis ein Plenarprotokoll vorliegt, läuft im Hintergrund ein minutiös abgestimmter Prozess. Wenn im Bundestag debattiert wird, sind meist 14 bis 16 Stenograf:innen gleichzeitig im Einsatz. Sie wechseln sich im Zehn-Minuten-Takt ab. In dieser Zeit notieren sie alles: das Gesagte, aber auch Zwischenrufe, Beifall, Lachen und Unruhe.
Zur Ausstattung am Platz gehören Lautsprecher, damit auch leise Stimmen verständlich bleiben – und ein Arsenal an Stiften. Ob Bleistift oder Kugelschreiber ist Geschmackssache, wichtiger ist, dass genügend Ersatzstifte bereit liegen. Nach ihren zehn Minuten verlassen die Stenograf:innen zügig den Saal, gehen in ihr Büro und diktieren das Stenogramm einer Schreibkraft. Diese überträgt den Text in Langschrift. Ergänzt werden Tagesordnungspunkte, Redner:innennamen und alles, was im Plenarsaal sonst noch passiert ist.
Im Anschluss wird der Text überprüft: Zitate, Zahlen, Namen – alles wird gegengecheckt. Dann folgt der Blick eines Revisors. Er hat zuvor eine halbe Stunde im Plenarsaal mitgeschrieben und bringt den nötigen Überblick mit, um den Text in den Kontext des Sitzungsgeschehens einzuordnen und letzte Korrekturen vorzunehmen. Schon rund zwei Stunden nach einem Redebeitrag erhalten die Abgeordneten eine erste Fassung zur Durchsicht. Sie können eigene Aussagen bei Bedarf klarstellen oder präzisieren.
Ist dieser Schritt abgeschlossen, wird der sogenannte „Stenografische Bericht“ veröffentlicht – häufig noch am selben Nachmittag, spätestens am Folgetag. Damit zählt der Bundestag zu den schnellsten Parlamenten weltweit - was die Veröffentlichung von Plenarprotokollen angeht.
Clara Hoheisel