Proteste in Israel

Mit Yoga und Trommeln gegen Netanjahu

25:19 Minuten
Mit Mundschutz sitzen Menschen im Schneidersitz auf einer Straßenkreuzung und praktizieren Yoga.
DIe Corona-Pandemie hat die soziale Krise in Israel verschärft. Viel Israelis wollen die Situation nicht länger hinnehmen. © Tal Shachar
Von Franziska Knupper  · 07.09.2020
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Einen politischen Neuanfang für Israel: Dafür gehen seit Wochen Tausende Israelis auf die Straße – mit Musik, Trommeln und Yoga. Der Protest vereint Ultraorthodoxe, Studenten und äthiopische Einwanderer – etwas, das es in Israel bisher so nicht gab.
Sonntagmorgen in Shapira, einem Stadtteil im Süden Tel Avivs, in einem Haus mit einer grünen Tür, umrahmt von noch grüneren Kakteen. Für Gabriel Broid ist es wieder einmal "der Morgen danach" – ein Morgen nach stundenlangem Gebrüll und Trillerpfeifen und bei schweißtreibenden 30 Grad nach Sonnenuntergang. Ein Morgen nach einem der Jerusalemer Proteste, bei denen seit mehr als 10 Wochen Zehntausende Israelis den Rücktritt von Premierminister Netanjahu fordern – und das direkt vor seiner Haustür: Pariser Platz, Ecke Balfour Straße, Jerusalem.
Auch Gabriel Broid wünscht sich einen politischen Neuanfang für sein Land – und meint damit vor allem eine sozialere, grünere und liberalere Politik. Seit diesem Sommer habe dieser Wunsch überhandgenommen. Er habe es satt, unter einer Regierung zu leben, deren Kopf Benjamin Netanjahu in mehreren Fällen der Korruption und Bestechung angeklagt wird.

Wir sind politische Waisenkinder geworden

"Wir – und das sind Hunderttausende von Menschen – sind zu politischen Waisenkindern geworden. Und diese Meinung teilen wir mit religiösen Leuten aus Siedlungen im Westjordanland, mit Arabern, Einwanderern aus Äthiopien oder mit linksliberalen Bürgern aus Tel Aviv, wie ich selbst einer bin."
Gabriel vertritt diesen Standpunkt schon seit Jahren. In seiner im ganzen Land bekannten Band "White Screen", die sich irgendwo zwischen Retro-Punk, Indie und manchmal auch elektronischer Musik befindet, singt er seit 2015 über Themen wie die Besetzung oder den Rassismus in seinem Land.
"In Israel ist fast alles politisch", sagt er. "Meine politische Aktivität hat sich bisher aber auf die Kunst beschränkt, also auf das Schreiben von Musik mit Texten mit politischem Inhalt. Nur als Beispiel: Unser letztes Album heißt 'Sex, Drugs and Palestine'. Vor Kurzem ist mir aber klargeworden, dass es vielleicht nicht genug ist, nur Musik darüber zu schreiben. Es hat mich aufgeweckt. Jetzt ist die Zeit, um auf direktem Wege aktiv zu werden."
Auf einer Autobahnbrücke stehen Menschen und schwenken die israelische Flagge.
Viele Israelis haben durch die Coronakrise ihren Job verloren. Auch dagegen richtet sich der Protest.© imago / ZUMA Wire / Nir Alon
Nicht nur in Jerusalem, auch auf Autobahnbrücken überall im Land versammeln sich seit Wochen Tausende, schwenken schwarze Fahnen und liefern sich ausdauernde Wettkämpfe mit den Wasserwerfern der Polizei. Viele von ihnen sind jung und seit der Pandemie arbeitslos, derzeit fast 20 Prozent des Landes – so wie der Musiker Gabriel Broid.

Karnevaleske Livestream-Musikvideos vom Protestplatz

Mit anderen Kreativen hat sich Gabriel zu einer Bewegung namens "Kulturschock" zusammengeschlossen, die mehr Krisenhilfe für Kulturschaffende fordert – oder auch die sozialen Medien mit karnevalesken Livestream-Musikvideos vom Protestplatz Balfour flutet. Dabei sorgen sie mit Trommeln aller Größe und Lautstärke oft für den meisten Lärm in der Menge.
"Die Balfour-Proteste sind mit einem Mal zur wichtigsten Sache in unserem Leben geworden. Dort spielt sich zurzeit alles für uns ab. Netanjahu wird ins Gefängnis gehen, wo er hingehört. Und dann werden wir unser Haus, unser Land von all der Scheiße reinigen, die er reingebracht hat."
Langsam richtet die Yogalehrerin Sapir sich auf und streckt ihre Hände gen Himmel, rollt den Kopf im Nacken und lockert die Schultern. Es ist der Abschluss ihrer ersten Yoga-Pose des Tages, des "herabschauenden Hundes".
"Ich bin Tänzerin und mache auch anderen Fitnesssport, ich laufe, ich mache Yoga, ich kombiniere alles", sagt Sapir. "Es geht für mich um die Verbindung von Körper und Geist, die liegt mir am Herzen."
Sapir Shilo lebt im Dorf Mevaseret Zion, zwischen sanften Hügeln und Zypressen am Fuße Jerusalems. Der Wald der judäischen Berglandschaft beginnt direkt hinter ihrem Garten. Die unzähligen Windspiele in den Zweigen der Bäume geben Sapir den Soundtrack für ihre tägliche Yogapraxis – und die dazugehörige Meditation:
"Als ich mich vor zwei Jahren habe scheiden lassen, habe ich angefangen, viele neue Dinge auszuprobieren – wie auch Meditation."

Mit "Mass Meditations" gegen Netanjahu

Die 31-jährige Sapir ist eine der Gründerinnen der sogenannten Mass Meditations. Statt Musik zu machen, Streit mit der Polizei zu suchen oder in ein Megafon zu schreien, strebt sie genau das Gegenteil an: Stille. Gemeinsam mit Hunderten von Gleichgesinnten ist es ihr gelungen, ihren Standpunkt im Schneidersitz und mit geschlossenen Augen zu vertreten, unbewegt von Plakaten und Sprechchören und doch mittendrin.
"Ich habe mich eigentlich nie recht für Demos interessiert. Wenn ich sie im Fernsehen gesehen habe, hab ich mir immer gesagt: 'Okay, ja, ihr habt Recht, aber ich sitze hier auf meinem Sofa.' Aber jetzt, als es mit Corona in Israel losging und ich mit meinen Freunden da gesessen habe und sah, was in Jerusalem passiert, sah ich das Feuer in dieser Sache und sagte mir, 'Okay, wir müssen etwas tun'. Durch Stille Stärke zeigen – für mich klingt das nach einem wunderbaren und neuen Weg, um etwas in Bewegung zu setzen – wenn ich da mit Hunderten Menschen gemeinsam sitze, wir miteinander verbunden sind und uns gemeinsam auf eine Idee, einen Wunsch konzentrieren: den Wunsch, die Werte in unserem Land zu verändern!
Menschen im Schneidersitz auf einer großen Straße in Jerusalem.
Massen-Meditation gegen Netanjahu.© Tal Shachar
Einmal war es völlig verrückt: Wir, das Orchester der Philharmonie, auf der einen Seite, und auf der anderen die Demonstranten. Ich hatte eine Gänsehaut. Auf der einen Seite konnte man die 'Tikva', Israels Nationalhymne, hören – und auf der anderen Seite schrien die Leute gegen Netanjahu. Und wir mussten in Balance bleiben. Es war großartig."

Sie singen die Nationalhymne und hissen Nationalflaggen

Nicht nur an der Nationalhymne merkt man, dass die Proteste in Jerusalem ganz und gar nicht "Anti-Israel" sind. Blauweiße Nationalflaggen flattern überall auf den Demos. Denn auch wenn die große Mehrheit der Teilnehmer zum linken politischen Lager zählt und gegen die Besatzung ist, ist das in Israel noch lange kein Argument gegen Patriotismus. Sogar eine Gruppierung ultraorthodoxer Juden, die Breslevs, hat sich seit Kurzem offiziell der Bewegung angeschlossen. Sie alle haben derzeit das Gefühl, als sei ihnen das eigene Land gestohlen worden, meint Gili Levi.

Über alle ideologischen Grenzen hinweg demonstrieren die Menschen in Israel in Massen – und was macht Benjamin Netanjahu? Er ignoriert die Proteste und inszeniert sich stattdessen als Welt- und Friedensretter, meint unser Korrespondet in Tel Aviv, Benjamin Hammer. Das Gespräch mit Benjamin Hammer hier zum Nachhören:
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Im Gegensatz zu Sapir kann Gili kein Lied von einem gewaltfreien Protest singen. In seiner Wohnung am Damaskustor – direkt an der Grenze zur Altstadt Jerusalems und dem arabischen Markt – sichtet er gerade eine schier endlose Flut an Dokumenten, Videos und Zeitungsartikeln. Damit will er seine Klage gegen den stellvertretenden Bürgermeister Jerusalems, Arieh King, untermauern.
"Ich arbeite gerade daran, alle Beweismittel, alle Videos zu sortieren", sagt Gili. "Bei einer Demo habe ich versucht, einen Demonstranten vor den Polizisten, die zum Teil auf Pferden ritten, zu schützen. Ich habe mich auf den Boden gelegt. Das Nächste, was ich merkte, waren Faustschläge. Ich habe meinen Kopf geschützt, wurde gewürgt und merkte auf einmal, wie mich jemand wegschleifte. Als ich meinen Kopf hob, sah ich, dass es der stellvertretende Bürgermeister war, der mir all das antat."
Das alles sei bei der allerersten Demo passiert, die ganz und gar nicht zufällig am 14. Juli stattfand – dem Tag, an dem im 18. Jahrhundert in Frankreich die Bastille gestürmt wurde. Levi ist zu einem der wichtigsten Wortführer der Bewegung aufgestiegen – und das, obwohl auch ihn Politik bisher eigentlich gar nicht interessiert hat.
"Ich kuratiere und organisiere Kulturveranstaltungen, wie zum Beispiel Musikfestivals, und war früher Journalist. Der 14. Juli war für mich das erste Mal, dass ich an einer Demo teilnahm, ich bin also ganz frisch dabei."

Von Woche zu Woche eine härtere Reaktion des Staates

Dabei ist Levi jemand, der sich nicht immer ganz an die Vorschriften der Polizei hält. Und Woche um Woche fällt die Reaktion der Obrigkeiten härter aus.
"Ein paar von uns weigerten sich, Platz zu machen. Also haben sie uns mit dem Wasserwerfer verscheucht. Seitdem scheint die Polizei der Sache aber müde geworden zu sein, sie verhaften uns einfach und fahren uns mit Bussen weg. Das letzte Mal haben sie bestimmt 50, 60, 70 Leute verhaftet."
Gili ist überzeugter Bürger Jerusalems. Mehrere Jahre war er künstlerischer Leiter des großen Kulturzentrums "Miffal". Davor besetzte er verlassene Häuser in der Innenstadt und verwandelte sie in Ateliers. Auch er ist seit mehreren Monaten arbeitslos. Und macht sich Sorgen um seine Stadt. Die erkenne er seit den Protesten nicht wieder:
"Es ist das erste Mal, dass ich so etwas hier erlebe. Und was auch immer in Jerusalem geschieht, hat Auswirkungen auf den Rest des Landes. Tel Aviv hat nicht diese Strahlkraft. In Jerusalem ballt sich die gesamte israelische Identität, hier liegt der Ursprung aller Probleme – mit den Palästinensern, dem Tempelberg, mit säkularen und orthodoxen Juden. Hier ist der Boden heiß, und Spannungen in Jerusalem sind sehr gefährlich für das ganze Land."

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte

In Tel Aviv hat die Fotografin Tamar Shemesh einen Termin im zentralen Busbahnhof. Es ist eine Kunst, sich in diesem Asphaltmonster aus Billigläden, Neonlicht und Rolltreppen zurechtzufinden. Abgase stehen in der Luft, aus jedem Kiosk spielt andere Musik. Ein Treffpunkt für Untergrund-Bewegungen aller Art. Auch für das Kollektiv "Photoactive", das hier im Studio des Künstlers Elad Rafaeli seine nächsten Schritte plant:
"Er ist einer der bekanntesten Dokumentarfotografen des Landes und hat um sich herum einen Zirkel engagierter Fotografen versammelt, die ihre Fähigkeiten aktiv einbringen wollen. Gerade machen wir eine Kampagne, bei der wir Demonstranten porträtieren."
Demonstranten halten Transparente in hebräischer Schrift hoch und eines, auf dem steht "Bibi. No way. Go away!"
Ein Ministerpräsident, der wegen Korruption angeklagt ist: Das treibt seit Wochen viele Israelis auf die Straße.© imago / UPI Photo / Debbie Hill
Mitglieder des Kollektivs haben das bekannteste Logo der Bewegung des Sommers auf eine riesige Leinwand gedruckt: zwei rote Hände, gekreuzt oder gefesselt – das liege laut Tamar in der Meinung des Betrachters. Die Leinwand wollen sie jetzt zu den Protesten mitnehmen und als Hintergrund für weitere Porträts nutzen. Im Rahmen einer großen Kampagne sollen die Bilder dann als Poster in ganz Jerusalem und Tel Aviv verteilt werden.
"Ein gutes Bild kann so viel sagen", betont Tamar. "Ich glaube fest an die Kraft der Bilder und an Dokumentarfotografie – und dass wir dadurch eine Botschaft verbreiten und Veränderung bewirken können. Ich will nicht am Rande stehen und im Anschluss sagen: 'Ich habe nichts getan'."
Im Gegensatz zu Gili, Sapir oder Gabriel ist Tamar keine Anfängerin, wenn es um Demos geht. Seit über zehn Jahren schon geht die 28-Jährige gegen den Konflikt mit den palästinensischen Nachbarn und für Feminismus auf die Straße. In ihrer Abschlussarbeit porträtierte sie ultraorthodoxe Frauen aus Jerusalem, die sich für ihre Rechte einsetzen. Und auch heute, nach diesem Treffen, wird sie noch zu einer Demo gehen – und zwar gegen eine Massenvergewaltigung, die in diesem Sommer im Touristenort Eilat am Roten Meer stattgefunden hat.

Eine junge Generation, die sich nicht anders zu helfen weiß

"Ich habe viele Kämpfe miterlebt, ich gehe zu vielen Protesten. Ich habe wirklich das Gefühl, dass ich als junge, ehrgeizige Berufsanfängerin in diesem Land eine Minderheit bin. Wirklich schade. Es tut verdammt weh."
Tamar gehört zu einer jungen Generation Israelis, die sich vor allem wirtschaftlich nicht mehr zu helfen weiß. Und das nicht erst seit der Coronakrise. Seit Jahren prangert die Bevölkerung die horrenden Lebenshaltungskosten an. Für Tamar und ihre Freunde ist sozialer Aufstieg zu einem Fremdwort geworden:
"Meine Generation hat es irgendwie akzeptiert, dass wir uns nie ein Haus leisten können. Dass wir den Lebensstandard, mit dem wir groß geworden sind, nicht halten können. Deswegen geben wir unser Geld jetzt aus. Nicht weil wir verwöhnt sind, sondern weil wir uns sagen: 'Wenn ich schon keine Zukunft habe, dann kann ich immerhin das Jetzt genießen.'"
Ihre Sorgen sehen junge Israelis dieser Tage auch bei den Menschen in anderen Ländern: Auf einem riesigen Banner, das über drei Stockwerke einer Hauswand unweit der Balfour Straße hängt, steht geschrieben: "Libanon, Belarus, USA, Israel". Überall passiere gerade das Gleiche, so Gili Levi. Und Netanjahu?

"Netanjahu ist nur eine andere Version von Trump oder Putin"

"Netanjahu ist nur eine andere Version von Donald Trump oder Putin oder Lukaschenko, Hisbollah oder Hamas. In puncto Diktatur befindet sich Netanjahu wahrscheinlich an einem früheren Punkt auf dem Zeitstrahl. Aber wenn wir jetzt nichts tun, dann haben wir in 15 Jahren vielleicht einen Lukaschenko hier."
"Ich würde mir wünschen, dass aus diesen Demos eine neue, linksgerichtete, junge und stolze Partei hervortritt, die sich nicht für ihre Werte schämt. Die gegen Faschismus und gegen Rassismus ist und für Verhandlungen mit den Arabern, für den Dialog und für den Frieden!"
Jeden Samstag hört man in den Rufen der Menschen das Wort "Mahapecha" – Revolution. Sie alle verlangen nach fast zwei Jahrzehnten Netanjahu einen Neustart. Mit Songs und Trommeln, mit Yoga-Posen und Meditation, stetigem Ungehorsam oder dem Fotoapparat. Ultraorthodoxe neben Studenten aus Tel Aviv und äthiopischen Einwanderern – etwas, das in Israel bisher alles andere als selbstverständlich war.
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