Corona-Proteste vor Berliner Gethsemanekirche

Gemeinde wehrt sich gegen Vereinnahmung

Von Lucia Weiß · 09.01.2022
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Anwohner und Gemeindemitglieder der Berliner Gethsemanekirche wehren sich gegen Corona-Proteste vor dem Gotteshaus. Sie wollen nicht, dass das einstige Symbol für den friedlichen Widerstand gegen das DDR-Regime instrumentalisiert wird.
Von der S-Bahn-Station Schönhauser Allee zur Gethsemanekirche sind es nur wenige Minuten. Es ist schon dunkel. Von weitem sieht alles friedlich aus an diesem winterlichen Montagabend im noch frischen Jahr. Vor der hell erleuchteten Kirche haben sich einige Menschen in Grüppchen zusammengefunden.

Wünsche auf der Wäscheleine

Die draußen Versammelten sind auf Einladung der Nachbarschafts-Initiative Gethsemanekiez gekommen. Wer mag, kann sich einen farbigen Zettel aus einer Box nehmen und mit Filzstift einen Wunsch darauf schreiben. Dann werden die Zettel an eine spontan aufgespannte Wäscheleine vor der Kirche gehängt.
Ein weißes Stofftransparent mit der Aufschrift "Wir gedenken der Todespofer der Corona-Pandemie" und einer Fotografie der Gethsemanekriche.
Nachbarn zeigen Flagge: Mit einem Transparent setzt die Kiezinitiative den Protesten der Impfgegner ein Zeichen der Solidarität entgegen.© imago / snapshot
„Heute, der erste Montag im Jahr, ist ein bisschen optimistischer", sagt Wiebke, eine der Mitbegründerinnen der Initiative. "Wir wollen in die Zukunft blicken, und wollen Sie fragen, euch fragen, was ihr euch für das laufende Jahr wünscht und mit euch überlegen, wie wir solidarisch durch dieses Jahr kommen.“
Wiebke wohnt seit 15 Jahren im Kiez und hat zwei Kinder. Ihren Nachnamen will sie – wie auch die meisten anderen meiner Gesprächspartner – aus Sorge vor Anfeindungen nicht im Radio hören.

Streit um die Symbolik des Ortes

Erst seit wenigen Wochen gibt es diese Initiative – als Reaktion auf die zunehmenden Proteste von selbsternannten Gegnern der Corona-Maßnahmen. Seit Monaten treffen diese sich an der Kirche. Sie vereinnahmen die Gethsemanekirche, diesen symbolischen Ort des friedlichen Widerstands in der DDR, und missbrauchen dieses Andenken, sagt Wiebke. Das Anliegen der Nachbarinnen und Nachbarn, die sich in der Initiative zusammengeschlossen haben, schildert die 44-Jährige so:
„Die Kirche steht halt für Freiheit und ist ein Symbol der friedlichen Revolution, und das findet auch immer noch im Bewusstsein der Bevölkerung statt. Das ist ein ganz wichtiger Ort, und uns stört es halt ganz besonders, dass die Corona-Protestler sich versuchen, dieses Ortes zu bemächtigen und der ganzen Symbolik, die damit einhergeht – also: das Kerzenaufstellen, die Montagsdemonstrationen. Das sind Punkte, wo wir sagen: 'Das finden wir nicht ok', wo die sich an diese Diktatur anlehnen und die damit auch verharmlosen.“
Eine Menschengruppe, teilweisen mit brennenden Kerzen in den Händen, steht in der Nacht vor einer Backsteinkirche.
Mahnwache ohne Maske: Gegner der Corona-Maßnahmen protestieren im Dezember 2021 vor der Kirche.© imago / Seeliger
Rückblick: Am frühen Abend des 13. Dezember 2021 versammeln sich zahlreiche Menschen vor der Gethsemanekirche. Die Veranstaltung ist nicht angemeldet, wie mir die Berliner Polizei auf Nachfrage bestätigt. Am Anfang seien es 80 Personen gewesen, diese Zahl sei dann sukzessive auf 350 Menschen angestiegen. Im Internet verbreiten die Initiatoren danach ein Video von dem Abend. Die Parole "Lasst das Spritzen sein, reiht euch in die Demo ein!" ist dort zu hören.

"Spaziergang" oder Protestmarsch?

Die Polizei möchte nicht von Ausschreitungen sprechen, wohl aber hätten die Beamten vereinzelt körperliche Gewalt gegen Demonstrierende angewendet: in Zusammenhang mit einem Angriff auf einen Polizisten und, weil sich Personen gegen die Anordnungen der Polizei zur Wehr gesetzt hätten. Die Versammlung wird von der Polizei aufgelöst, die Gegnerinnen und Gegner der Corona-Maßnahmen ziehen weiter.
Was die Teilnehmenden als losen "Spaziergang" bezeichnen, sind rechtlich gesehen unangemeldete Demonstrationen, erklärt die Polizei. Das klingt plausibel, denn die Treffen werden vorher öffentlich angekündigt, und es wird zum Mitmachen aufgefordert. Den Telegram-Kanal der Initiatoren zu finden, ist nicht schwer. Das Motto des Protests gegen die Coronapolitik: "Freedom Parade".
Eine Gruppe von Demonstranten mit Mundschutz, in der Mitte steht einem Frau mit einer Wollmütz, die in ein Megafon spricht.
Wem gehört die Erinnerung? Die Initiative von Anwohnern und Gemeindemitgliedern will verhindern, dass Gegner der Corona-Maßnahmen die Demokratiebewegung von 1989 und deren Symbole für sich vereinnahmen.© imago / Seeliger
Auch an diesem ersten Montag im neuen Jahr verschärft sich die Situation an der Gethsemanekirche rasch: Mehrere Personen ohne Maske stellen sich demonstrativ nah an die Gruppe der Nachbarinnen und Nachbarn. Eine Frau ohne Maske filmt die ganze Zeit mit dem Handy und hält ein DIN A4-Schild in der Hand: „Miteinander statt Gegeneinander“ steht da auf schwarzem Papier, mit Herzchen drumherum.
Die Polizei weist auf die geltenden Masken- und Abstandsregeln hin, der Ton ist gereizt. Die Frau beschwert sich, dass andere ihr zu nahe kommen würden, nicht umgekehrt. Weitere Menschen ohne Maske tauchen plötzlich auf, umringen die Anwohner oder sammeln sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite, eng beeinander stehend, manche haben Kerzen in der Hand, ein Akkorden spielt.

Seit Langem mit dem Kiez verbunden

Ich spreche zwei Frauen an, die neben der Wäscheleine mit den Wunschzetteln für das neue Jahr stehen. Sabine Horward hat auf Twitter von der Nachbarschaftsinitiative erfahren. Sie ist aus Wilmersdorf hergekommen, aber dem Kiez rund um die Gethsemanekirche sehr verbunden, wie sie sagt. Wie sich der Abend entwickelt, findet die blonde Frau mit der roten Brille schade:
„Wir sind hier umzingelt von offenbar Corona-Leugnern, die alle behaupten, sie haben Masken-Atteste. Jetzt sind schon vier Polizisten hier, vorhin war es ganz entspannt, nur zwei hier, nur so im Hintergrund gehalten. Jetzt werden die immer wichtiger, haben sich Verstärkung gerufen, es ist ein bisschen traurig. Die fangen jetzt an, die Sache zu dominieren, und so war es ja eigentlich nicht gedacht.“
Eine Videoprojektion mit der Darstellung von Erich Honecker auf der Backsteinfassade der Gethsemanekirche.
30 Jahre friedliche Revolution: Eine Videoprojektion an der Fassade der Gethsemanekirche erinnert am 4. November 2019 an die historische Bedeutung des Ortes.© imago / Rolf Zöllner
Neben Sabine Horward steht Heike. Die beiden haben sich beim letzten Treffen der Nachbarschafts-Initiative kennengelernt und gehen jetzt immer gemeinsam hin. Heike ist im Südwesten von Deutschland aufgewachsen, wie sie erzählt. Als Teenager war sie Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre regelmäßig zu Besuch bei ihrer Schwester in Berlin. Heike hat die DDR auf diesen Reisen erlebt und fand es traumatisch. Den friedlichen Widerstand findet sie bewundernswert:
„Ich bewundere die Zivilcourage, die die Menschen in der DDR an den Tag gelegt haben, um dieses System zu ändern. Vielleicht wollten gar nicht alle die DDR beenden, sondern ich glaube, dass wirklich viele das System ändern wollten. Und die haben ganz viele Gefahren und Repressionen auf sich genommen, und das hat nichts zu tun mit dieser Republik, mit dieser Demokratie, in der wir leben. Und gerade, dass hier so viel diskutiert wird, zeigt ja auch, dass wir nicht in einer Diktatur leben.“

Ein Ort des friedlichen DDR-Widerstands

Ich beobachte, wie die Menschen, die ohne Maske an der Gethsemanekirche sind, sich nicht an die Abstände halten und immer wieder gezielt provozieren. Die Polizei hat Verstärkung gerufen, und daraufhin ziehen die rund 50 Menschen ohne Maske ab und machen sich auf den Weg durch den Prenzlauer Berg, Richtung Danziger- und dann zur Kollwitzstraße.
Ich spreche mit einem Mann etwa Ende 50, grauer Vollbart, der sich als Falk vorstellt. Er trage aus medizinischen Gründen keine Maske. An der Gethsemanekirche sei er, um sein Engagement aus der DDR fortzusetzen, wie er sagt.
Historische schwarz-weiß Fotografie einer übervollen Kirche, deren Besucher gebannt der Predigt folgen.
Raum für Widerrede: Am 9. Oktober 1989 hält der Ost-Berliner evangelische Bischof Gottfried Forck in der Gethsemanekirche eine Andacht für verhaftete Teilnehmer an Friedens-Demonstrationen.© imago / epd
„Ich bin 1989, ich bin Kind des Ostens", sagt Falk. "Ich hab hier auch die Revolution zu DDR-Zeiten mitbegleitet. Ich war hier vielleicht so an drei Montagen bei diesen Veranstaltungen. Ich kenne das, dass es hier früher der Ort des Widerstandes war, und dass sich hier Menschen getroffen haben, die letztendlich gegen eine Diktatur aufgestanden sind und die nicht ihre Demonstrationen angemeldet haben – weil, auch das war verboten in der DDR –, sondern die auf die Straße gegangen sind, weil sie keine andere Möglichkeit mehr gesehen haben, gegen dieses System aufzustehen."

Der eigenen Stimme Ausdruck verleihen

Das verbinde ihn mit diesem Ort, erklärt Falk, und auch heute sei es ja so, dass Demonstrationen sehr oft verboten würden. "Die werden abgesagt aus fadenscheinigen Gründen, und deswegen ist es für mich ein Ort, hier zu sein und meiner Stimme Ausdruck zu verleihen.“
Später erkenne ich meinen Gesprächspartner in mehreren Youtube-Videos der Corona-Demonstranten wieder – er war auch am 13.12. mit dabei, und äußerte sich verächtlich über Polizei und die Corona-Regeln. Dass sich Gegner der Corona-Maßnahmen wie Falk immer wieder auf die DDR-Zeit beziehen und sich als Widerstandskämpfer inszenieren, findet Ursula Kästner unangemessen. Die heute 70-Jährige war damals dabei in der Gethsemanekirche. Als Mitglied im Kirchengemeinderat hat sie an vielen Friedensgebeten teilgenommen.
Schwarz-weiß Fotografie einer Menschengruppe, die sich am Abend vor dem Eingang einer Backsteinkirche versammelt hat.
Fürbitte für Inhaftierte: Die Gethsemane-Gemeinde zeigte Solidarität mit Kritikern der DDR-Führung.© picture alliance / Chris Hoffmann
„Das kann man nicht vergleichen", sagt Kästner. "Wir haben nicht eine Demo veranstaltet gegen Honecker, gegen das ZK, gegen die Partei. Sondern wir haben unsere Empathie, unsere Solidarität in Fürbitten für zu Unrecht Verhaftete zum Ausdruck gebracht. Und das ist, glaube ich, die grundsätzliche Fehlinterpretation, dass gesagt wird: 'Wenn hier steht 'Freiheit', dann bedeute das: Ich kann mir hier alles erlauben. Oder so.“

Verharmlosung der Diktatur?

Noch immer ist die Archäologin Gemeindemitglied. Beim Kaffee in ihrer Wohnung unweit der Prenzlauer Alle erzählt die gläubige Christin, wie bestürzt sie über die Versammlungen der Corona-Maßnahmen-Gegner an ihrer Kirche ist:
„Es macht mich traurig, verunsichert, weiß ich nicht. Ich hoffe, dass diese 'Spaziergänge', was es auch immer ist, dass die friedlich bleiben. Aber wenn man aus den Medien hört, dass hier und da doch Leute angegriffen werden, Polizisten, Ordnungskräfte und so weiter, das ist schon beängstigend.“
So geht es auch Ulrike, die die Initiative Gethsemanekiez mitgegründet hat. Sie hat die DDR als Jugendliche in Dresden erlebt. Die Attitüde vieler Gegnerinnen und Gegner der Corona-Maßnahmen ist ihr deshalb zuwider:
„Ich finde es wirklich entsetzlich, zu sehen, wie Leute sich hierhin stellen. Zum Beispiel, mir wurde direkt gesagt: Wir sind ja auch dabei, die neue Revolution anzuzetteln. Gibt eigentlich keinen besseren Ort als die Gethsemanekirche, hier ging das ja schonmal los, und jetzt machen wir hier unsere Revolution. – Und ganz ehrlich, da kriege ich fast Brechreiz, weil ich das derart geschichtsvergessen finde, unerträglich finde, wie das Leid der Diktatur in der DDR damit auch verharmlost wird.“

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