Der eigene Weg der Ukraine
Der Strafrechtsprofessor Peter-Alexis Albrecht hat einen deutsch-ukrainischen Rechtsdialog geleitet - davon angeregt plädiert er dafür, die Ukrainer über Europapolitik und Neuwahlen entscheiden zu lassen - ohne Einmischung aus der EU.
Man stelle sich einmal vor: Aus der deutschen Opposition von Linken und Grünen gehe massiver Protest hervor - wegen politischer Erstarrung, wegen der deutschen Beteiligung an kriegerischen Konflikten in aller Welt, wegen massiven Abbaus des Datenschutzes.
Die Protestler, von der Bevölkerung mit viel Sympathie bedacht, okkupierten den Gendarmenmarkt in Berlin, bauten Barrikaden auf und besetzten Amtsgebäude! In dieser Situation würde der russische Außenminister nach Berlin reisen und die deutschen Demonstranten zu unbeugsamem Ausharren ermuntern.
Genau das geschieht derzeit in der Ukraine, nur mit anders verteilten Rollen. Die Regierung und der Präsident stützen sich dort auf Mehrheiten, die in den Jahren 2010 und 2012 - von der EU beobachtet - demokratisch gewählt haben. Nun kann man mit guten Gründen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Ukraine als hoch problematisch bewerten.
Termine für Neuwahlen stehen fest
Der Präsident könnte, aber er muss deswegen nicht zurücktreten. Die Opposition mag ihm vorwerfen, eine falsche politische Richtungsentscheidung getroffen zu haben: weg von Europa, hin zu Russland. Nur stützt er sich dabei auf die parlamentarische Mehrheit. Und verfassungsrechtlich legitimiert war er auch! Warum sollte jetzt neu gewählt werden? Für Neuwahlen gibt es Termine: 2015 und 2017. Soweit das kleine politische Einmaleins.
Die Wege aus der politischen Krise müssen allein die Ukrainer finden. Weder die EU noch Russland haben Eingriffs- und Einmischungsrechte. Warum also das laute Geschrei aus der Warschau, Berlin oder Brüssel. Die Androhung von Sanktionen oder gar deren Durchsetzung sind völkerrechtswidrig.
Gerade die EU hat sich in den letzten Jahren als strenger demokratischer Zuchtmeister hervor getan. Was sollte die Ukraine nicht alles reformieren und verbessern? Datenschutz, Korruptionsgesetze, Gesetze gegen Fremdenfeindlichkeit, um nur einiges zu nennen.
Studierende und Lehrende der Goethe-Universität beispielsweise haben in Lemberg, Odessa, Kharkiv und Frankfurt am Main Seminare veranstaltet und breite Diskussionen geführt. Ein Ergebnis: Rechtlich sind Deutsche und Ukrainer einander näher, als sie es vorher vermutet haben. Die Europäische Menschenrechtskonvention eint.
Reformen lassen sich nicht befehlen
Und ein weiteres Ergebnis: Reformen lassen sich nicht befehlen, sie bedürfen einer mühevollen Überzeugungsbildung - und zwar in freundschaftlicher Kooperation. So wie es Deutsche und Franzosen in Richtung Westen geschafft haben, so müsste es über Polen in Richtung Ukraine und weiter nach Osten gehen. Nur so wird ein friedliches Miteinander ermöglicht. Und dies braucht Zeit.
Der Zweite Weltkrieg hat hier wie dort immer noch drei Generationen im starken Würgegriff. Sowjetisches Aushungern und deutsches Morden hat das Land geschunden. Über 10 Millionen Menschen fanden den Tod. Das verpflichtet zu helfen. Getöse von Möchtegern-Imperialisten verbietet sich. Aufgeklärte Politik sucht stattdessen Annäherung durch Zusammenarbeit, die zweckfrei ohne Bedingungen angeboten würde.
Und noch eines. Die östliche ukrainische Stadt Kharkiv liegt wenige Kilometer vom russischen Wolgograd entfernt. Das hieß früher Stalingrad. Diese Nähe wird zur Mahnung: will Europa die Zukunft im Osten nicht durch Misstrauen belasten, muss es die Russen einbeziehen, wenn es eine gute und enge Nachbarschaft mit den Ukrainern anstrebt.
Peter-Alexis Albrecht, geboren 1946, ist Jurist, Sozialwissenschaftler und Professor (em) für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsgebiete sind das Strafrecht in seinen Bezügen zur Kriminologie, zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie sowie die Erforschung der Wirkungsweisen des Kriminaljustizsystems.