Proteste betreffen gesamte "Politikkultur in Polen"

Bozena Choluj im Gespräch mit Katrin Heise · 07.02.2012
Die polnische Kulturwissenschaftlerin Bozena Choluj ist überzeugt, dass es bei den ACTA-Protesten in ihrer Heimat nicht nur um die Informationsfreiheit im Internet geht. Die Wut der Bürger richte sich gegen zu wenig Beteiligung in der Politik Polens insgesamt, sagt sie.
Katrin Heise: Das Anti Counterfeiting Trade Agreement, kurz ACTA, ist ein Handelsabkommen, mit dem die teilnehmenden Nationen beziehungsweise Staatenbünde gegen Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzung vorgehen wollen. Unterschrieben ist es bereits in den meisten Ländern, die überall notwendige Ratifizierung scheint fast eine Selbstverständlichkeit zu sein oder schien jedenfalls so, nun regt sich massiver Widerstand wegen befürchteter Zensur und Schnüffelei im Internet und erheblicher Intransparenz beim Entstehungsprozess des Abkommens. Besonders heftig protestieren die Polen.

Was noch hinter dieser Wut der Bürger steckt, das möchte ich nun von Bozena Choluj wissen. Sie ist Professorin für deutsch-polnische Kulturbeziehungen und Gender Studies an der Viadrina in Frankfurt/Oder und Literaturwissenschaftlerin an der Warschauer Universität. Schönen guten Tag, Frau Choluj!
Bozena Choluj: Ja, guten Tag!
Heise: Das ist ja ein breites Spektrum, wie wir gehört haben, an Protestlern. Man hat den Eindruck, von rechts bis links demonstrieren alle. Woher diese Einigkeit, ist die tatsächlich so gegeben?
Choluj: Ja, es gibt eine Einigkeit. Im Grunde genommen kann man sagen, dass Polen mittlerweile eine Informationsgesellschaft geworden ist, eine Gesellschaft, die dann nach dem Recht auch verlangt, Informationen zu bekommen. Und ich habe den Eindruck, dass im Internet eine Bevölkerung sich gesammelt hat, die lange Zeit quasi apolitisch war, das heißt, nicht interessiert an Wahlen, nicht interessiert an parteidemokratischen Strukturen und an der Aktivität in den Parteien. Und das konnte so friedlich laufen, solange ihre Welt nicht bedroht war. Mit ACTA ist die Gefahr gekommen, dass auch diese Welt bedroht ist, und sie können nicht weiter so ruhig bleiben.
Heise: Das heißt, die Jugend, vor allem auch die Jugendlichen, die demonstrieren da dagegen, dass ihre letzten Freiräume, die sie im Internet sehen, in einer Gesellschaft, die immer mehr reglementiert wird, dass die dahinschwinden?
Choluj: Ich würde das nicht nur auf die Jugend reduzieren. Klar, es sind vor allem Jugendliche und junge Leute, die auf der Straße demonstrieren. Aber diesen Demonstrationen schließen sich auch andere an, und zwar nicht nur in Bezug auf das Problem der Beschneidung der Internetfreiheit, sondern überhaupt in Bezug darauf, was in der Regierung oder in der Politikkultur in Polen seit längerer Zeit läuft.
Heise: Bleiben wir noch mal einen kleinen Moment bei der Internetkultur. Würden Sie sagen, dass sich so was wie in Deutschland die Piratenpartei beispielsweise bilden könnte, also eine richtige netzpolitische Bewegung in Polen?
Choluj: Nein, ich kann Sie gleich unterbrechen. Nein, es ist eine interessante Erscheinung, diese Proteste münden nicht in einer Organisation einer Partei. Es ist eine fast antiparteiische Aktion. Das ist Bürgerbewegung, könnte man schon sagen, die nicht an diesen Strukturen interessiert ist, die bisher versagt haben. Alle politischen Optionen haben sozusagen Fehler wiederholt, die nicht mehr akzeptabel sind, was die Information betrifft, was die Reaktion der Regierung auf Wünsche oder im Bezug auf die Entschlüsse, die gefasst werden durch die Regierung.

Alles läuft sozusagen hinter der verschlossenen Tür – ich meine jetzt die Entschlüsse auf der Regierungsseite –, und ACTA ist sehr repräsentativ dafür geworden. Es ist interessant, dass in Polen schon seit zwei Jahren Bemühungen laufen von unterschiedlichen Nicht-Regierungs-Organisationen, Informationen zu bekommen über ACTA. 2009 hat die Stiftung Modernes Polen eine Absage der Europäischen Kommission bekommen, als sie sich an die Kommission gewandt hat mit der Bitte um das Dokument. Und das wurde dann weiter getrieben, auch auf der Seite der polnischen Regierung.

Und als diese Unterschrift als Gefahr nahte, hat sich die Bevölkerung aus diesem Internet-Bereich, das sind alles Internetnutzer, so organisiert, dass sie gezeigt hat, es ist nicht nur Internetwelt, sondern die Internetwelt kann auch in der realen Welt aktiv werden. Und dann kam es zu den Angriffen auf die Internetseiten der Regierung, des Parlaments ...
Heise: Das heißt, man demonstriert gegen die Intransparenz und man demonstriert gegen die Einschränkung von Freiheit und Bürgerrechten. Mit Bozena Choluj spreche ich über die Anti-ACTA-Demonstrationen in Polen. In Berichten, Frau Choluj, ist aber auch zu lesen und zu hören, den Demonstrationen schlössen sich unpolitische Randalierer und Hooligans an. Werden die Demos auch missbraucht, oder zeigt das sich vielleicht, dass da eine ganz, ganz tief sitzende verbreitete Unzufriedenheit herrscht, die noch über das, was Sie jetzt schon genannt haben, hinausgeht, dass sich ganze Generationen nicht beachtet fühlen?
Choluj: Es ist interessant. Am ersten Februar gab es in Stocznia – das ist eine alternative Stelle oder Arbeitsstelle für Innovationsforschung – eine Debatte. Und diese Debatte lief unter dem Thema "ACTA-Generationskrieg?" Und man hat das sehr schnell verworfen, diese These des Generationskrieges. Es ging wirklich um die Unzufriedenheit, und dem haben sich Leute angeschlossen, die nicht nur zu der Jugend gehören, sondern die auch mit diesen Schwierigkeiten zusammenhängen, von der Regierung gehört zu werden, dass diese Entscheidungen, die getroffen werden von der Regierung, ohne Bürgerbeteiligung laufen.

Und diese Bürgerbeteiligung ist etwas, was angestrebt wurde, in Solidarnosc-Zeit, und da sind auch Menschen, die sich daran beteiligen aus diesen Zeiten, die ganz einfach sich erinnert fühlen an die Zeiten, wo die Regierung hinter dem… sozusagen geheime Entscheidungen getroffen hat.
Heise: In deutschen Zeitungen ist aber zum Beispiel auch davon zu lesen, dass die verlorene Generation Facebook auf die Straße geht. Von deutscher Seite hat man ja eher ein Bild vom modernen, selbstbewussten, aufstrebenden, wirtschaftlich erblühenden Polen. Gibt es denn so eine Generation, die sich wirklich abgehängt fühlt und das eben auch dort ausdrücken will?
Choluj: Ich habe den Eindruck, dass dieser Generationendiskurs ein Diskurs ist, mit dem man etwas sortieren will, was nicht sortierbar ist. Ich glaube nicht, dass es eine verlorene Generation ist. Es ist ein Teil der Menschen, die man so bezeichnen kann. Aber es ist vielmehr eine neue bürgerliche Bewegung, für die die Parteidemokratie so, wie sie jetzt in der politischen Kultur ausgeübt wird, nicht mehr gefragt ist. Also man fragt nicht mehr nach der neuen Linken, man fragt nicht mehr nach neuen Parteien im Sinne sogar der Piratenpartei. Die hat in Polen keinen großen Zulauf, sozusagen.
Heise: Es ist eine breite Bürgerbewegung, die in Polen auf die Straße geht. Bozena Choluj, ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch!
Choluj: Vielen Dank!
Heise: Sie ist an der Viadrina in Frankfurt/Oder und an der Uni Warschau tätig. Und in Deutschland wird gegen ACTA am kommenden Samstag demonstriert.

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