Protestantische Bewegung der Waldenser

"Es gab viele Reformationen"

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Hauptkirche der Waldenser in Torre Pellice im italienischen Piemont © Imago/CHROMORANGE
Daniele Garrone im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 16.10.2016
Martin Luther als Inbegriff der Reformation - das sei eine sehr deutsche Perspektive, meint Daniele Garrone, Professor für Altes Testament an der theologischen Fakultät der Waldenser in Rom. Die Waldenser hatten schon vor Luther versucht, die katholische Kirche zu verändern.
Anne Françoise Weber: Wer glaubt, die Geschichte der Reformation beginne mit der Veröffentlichung von Martin Luthers Thesen 1517, der irrt gewaltig. Schon vor Luther gab es nicht nur Theologen, die Kritik an der katholischen Kirche übten, es gab auch Bewegungen, die sich von der katholischen Kirche abspalteten. Eine davon ist die der Waldenser, die auf den Kaufmann Petrus Valdes zurückgeht, der im 12. Jahrhundert im französischen Lyon lebte. Er und seine Anhänger verzichteten auf persönlichen Besitz, zogen bettelnd und predigend durch die Lande, ohne geweihte Priester zu sein – und sie übersetzten die Bibel in die Volkssprachen. Damit zogen sie den Groll der katholischen Kirche auf sich, die Valdes schließlich exkommunizierte. Er wurde aus Lyon vertrieben und seine Anhänger lebten zunächst vor allem in Südfrankreich und Norditalien. Lange wurden die Waldenser verfolgt und verbreiteten sich doch in vielen Ländern Europas – auch in Deutschland gab es Waldensergemeinden.
Ihr Stammland wurde aber Italien, vor allem die Bergtäler des Piemont, wo sie sich zurückziehen konnten. Im 16. Jahrhundert schlossen sie sich den reformatorischen Kirchen an, was sie nicht vor Diskriminierungen und Vertreibungen schützte. Erst im 19. Jahrhundert erhielten die Waldenser in Italien die vollen Bürgerrechte, und schließlich auch eine eigene theologische Fakultät, die sich heute in Rom befindet. In dieser Fakultät habe ich den Professor für Altes Testament Daniele Garrone getroffen und ihn zunächst gefragt, welche Bedeutung das Reformationsjubiläum, das hierzulande 2017 ja mit großem Pomp gefeiert wird, überhaupt für seine vorreformatorische protestantische Kirche hat.

"Die Kernworte der Reformation neu entdecken"

Daniele Garrone: Kein so großer Pomp für eine Minderheitskirche. Aber ich glaube, es handelt sich für uns und für alle um diese Herausforderung, wieder die Kernworte der Reformation neu zu bedenken und vielleicht neu zu entdecken: Was heißt Evangelium, was heißt Gnade? Wofür sind wir da als Christen in der Welt? So, würde ich sagen, die geistige Sache der Geschichte.
Weber: Und das historische Datum 1517, Thesenanschlag oder auch nicht, aber jedenfalls Veröffentlichung der 95 Thesen von Martin Luther, hat dieses Ereignis einen Einfluss gehabt auf die waldensische Kirche?
Garrone: Vielleicht gerade das Jahr 1517 noch nicht. Aber bestimmt die Folgen. Das heißt, die Verbreitung einer reformatorischen Bewegung in Europa hat dann auch die Waldenser beeinflusst. Sie haben Kontakt aufgenommen mit den Anfängen der Reformation in der Schweiz. Und danach haben sich die Waldenser an die Reformation angeschlossen. Aber selbstverständlich 1517 gilt heute als Symbol der Reformationen. Und ich glaube, man muss den Plural betonen, es gibt nicht nur eine Reformation, mehrere Reformationen, verschiedene Theologien, aber gemeinsam ist allen diesen Theologien die Wiederentdeckung des Evangeliums, der Gnade, und das ist, glaube ich, auch die ökumenische Chance des Jubiläums. Es handelt sich nicht darum, eine geschichtlich-kirchliche Identität zu betonen oder zu verteidigen, es geht darum, das Evangelium der Gnade ernst zu nehmen.
Weber: Sie betonen, es gibt mehrere Reformationen. Das ist aber genau etwas, was in der Öffentlichkeit gar nicht wahrgenommen wird - eben mit dieser Konzentration auf 1517, auf Luther. Ärgert Sie das manchmal?
Garrone: Nein. Vielleicht ist das eine eher deutsche Perspektive, das heißt, in Deutschland heißt Reformation sofort und unmittelbar Luther. In Italien hat kaum einer Ahnung von der Reformation, man redet in der Öffentlichkeit nicht von der Reformation. Aber ich glaube, die Stimmung des Jubiläums ist auch in Deutschland eher an den Reformationen orientiert. Selbstverständlich, die Öffentlichkeit, ich glaube, es ist viel einfacher so, viele, viele Plakate und Bilder von Luther zu sehen, aber ich glaube, der eine Satz ist: Es gab viele Reformationen, das heißt: verschiedene Prägungen der gleichen Idee, aber auch dann verschiedene kirchliche Verfassungen und abgrenzende Theologie. Und ich glaube, das Jubiläum 2017 ist die erste Gelegenheit nach Leuenberg, wie man sagt, das heißt, nachdem die Lutherische und reformierte Kirche die gegenseitige Exkommunikation des 16. Jahrhunderts abgeschafft haben.
Weber: Was erst im 20. Jahrhundert passiert ist.
Garrone: Ja, 1973 auf dem Leuenberg bei Basel hat man endlich gesagt: Es gibt eine völlige Anerkennung der beiden Kirchen, der Ämter und der Sakramente und so. Das ist, glaube ich, auch eine große Chance dieses Jubiläums.

Papst räumte Verfolgungen der Waldenser durch Katholiken ein

Weber: Ist denn mit Papst Franziskus eine neue Zeit angebrochen für die Waldenser in Italien? Ist da eine andere Anerkennung, ein anderes Ernstnehmen?
Garrone: Ja, vielleicht, weil, der Papst macht in Italien immer einen sehr großen Eindruck. Aber diesmal, glaube ich, ist das Ergebnis zum Beispiel des Besuches des Papstes an der Waldenser Kirche in Turin war nicht so sehr die Anerkennung der Waldenser – siehst du, diese kleinen Waldenser sind auch wichtig, weil der Papst sie besucht –, sondern im Gegenteil: Was auch die Öffentlichkeit beeindruckt hat, ist die Tatsache, dass der Papst von seiner Kirche geredet hat und von den Sünden seiner Kirche, und so ganz einfach, aber ganz ernst von den Verfolgungen dieser kleinen Kirche geredet hat. Das ist neu gewesen. Nicht so sehr inhaltlich, aber der Form nach. Ganz einfache Worte, aber aus dem Herzen, ganz bewusst … Ich glaube, das ist wirklich neu gewesen.
Weber: Die Waldenser haben nur 20.000 Mitglieder, also in Italien eine verschwindende Minderheit. Hat der Papst da sozusagen auch eine PR-Aktion für Ihre Kirche gemacht, haben da Leute entdeckt, es gibt noch andere Christen in Italien?
Garrone: Die Waldenser sind 20.000 getaufte, konfirmierte und eingeschriebene Mitglieder in Italien. Dann gibt es eine andere – das heißt die gleiche, aber … – Waldenserkirche in Uruguay und Argentinien aus der Migration des 19. Jahrhunderts, ungefähr 10.000 Leute. Nein, es kommen immer wieder Leute zu uns, die vielleicht nach einer Zeit ohne Glauben oder des Atheismus oder einfach … die dann wieder das Evangelium entdecken und sich bei uns zu Hause fühlen, obwohl wir keine gezielte Mission treiben. Und das ist, würde ich sagen, fast physiologisch. Und der Besuch des Papstes hat keine Werbung verursacht.
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Symbol der Waldenser in der Hauptkirche der Waldenser in Torre Pellice im italienischen Piemont© Imago/CHROMORANGE
Weber: Und Sie leiden aber auch nicht unter Mitgliederschwund, sondern es steigt eher?
Garrone: Wie in vielen anderen europäischen Ländern haben wir eine niedrige Geburtenrate. Zum Beispiel in meiner Familie: Wir waren vier Kinder, von denen drei sich dann in der Kirche engagiert haben. Meine Frau und ich, wir sind beide Pfarrer, wir haben nur einen Sohn und bisher sagt er, ich bin stolz, zu dieser Kultur zu gehören, aber ich kann keinen christlichen Glauben bekennen. Wir leiden unter diesen demografischen Faktoren. Und so sind auch wir von der Säkularisierung berührt. Wir wachsen nicht, aber wir verschwinden auch nicht, wir bleiben immer mehr oder weniger die 20.000, die wir sind.
Weber: Haben Sie denn den Eindruck, dass für nachkommende Generationen dann eine größere Nähe zu anderen protestantischen Richtungen da ist? Also dass man sich da einem Kulturkreis oder einem Konfessionskreis verbunden fühlt? Oder dass eine Öffnung zur katholischen Kirche eher die Tendenz ist?

Steuersystem ermöglicht Einnahmen auch von Nicht-Mitgliedern

Garrone: Ich glaube, die Tendenz ist eher Richtung Säkularisierung. Es wachsen in Italien, auch in Italien eher die Evangelikalen als die Katholiken oder die Protestanten. Und man sollte sich fragen, warum. Aber das ist der Trend.
Weber: Das italienische Kirchensteuersystem ist ein Kultursteuersystem und das gibt Ihnen die Möglichkeit, da Unterstützung zu bekommen, die weit über Ihren Mitgliederkreis hinausgeht. Können Sie das noch mal erklären?
Garrone: In Italien gibt es die Möglichkeit, bei der Steuererklärung mit einer Unterschrift die Destinierung von 0,8 Prozent der Steuern zu orientieren. Und das gilt für verschiedene Kirchen und Konfessionen und Religionen. Das kostet uns nichts, aber man kann entscheiden und Kirchenorganisationen unterstützen. Wir sind wie gesagt ungefähr 20.000, die letzten Ergebnisse waren fast 650.000 Stimmen für uns und mehr als 30 Millionen Euro Budget. Unsere Synode hat damals beschlossen, dass wir das Geld nicht für das normale Kirchenleben benutzen, das heißt nicht für Pfarrerlöhne, nicht für die Erhaltung der Kirchen, nur für die Diakonie und die Kultur und mindestens, glaube ich, 30 Prozent in der sogenannten Dritten Welt.
Und wir gehen in diese Richtung. Die meisten Projekte, die wir unterstützen, gehören nicht zur Waldenser Kirche. Und ich glaube, das ist einer der Gründe, warum wir so viele Unterschriften bekommen, denn die Leute, die für uns unterschreiben, fühlen sich nicht an ein konfessionelles Unternehmen gebunden. Sie unterstützen keine Werbung für eine Konfession oder Religion, sie unterstützen eine bekennende christliche Organisation, die aber so sehr pluralistisch diese Gelder benutzt.
Weber: Sind das nicht zum Teil auch enttäuschte Katholiken, die dem Vatikan oder der katholischen Kirche Intransparenz vorwerfen, die Missbrauchsskandale und so weiter, und sagen, wir wollen eine andere Organisation, die christliche Gedanken vertritt, aber nicht diese Kirche?
Garrone: Wir haben keine genauen Angaben, weil … Ich habe manchmal – weil ich viele Vorträge und auch Vorlesungen in Italien halte –, ich habe sogar einmal zwei römisch-katholische Priester, die mir gesagt haben: Bisher unterstützen wir deine Kirche, weil wir Probleme mit der Konferenz der italienischen Bischöfe haben. Solange der Bischof Soundso die Konferenz präsidiert, kriegt ihr meine, unsere Unterschrift. Später, wer weiß. Ich erzähle das, um ein bisschen Kolorit zu geben. Ich würde nicht sagen, dass das ein Trend ist. Es gibt viele Nichtgläubige, es gibt viele Katholiken, die für uns unterschreiben, aber eher nicht so sehr in der Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche, aber um zu sagen: Es gibt eine kleine, aber bedeutende Kirche, die wir schätzen und lieben, und wir möchten ihre diakonische Arbeit unterstützen. Ich würde nicht so sehr die Alternative unterzeichnen, sondern eher die Sympathie und Solidarität für eine bekannte kleine Kirche.

Protestanten in Italien "nur im Bewusstsein einiger Eliten"

Weber: In Deutschland haben gerade die katholische und die evangelische Kirche ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017 veröffentlicht und darin heißt es, man könne durchaus gemeinsam den Ruf der Reformatoren zur Umkehr hören. Das geht ja doch relativ weit von katholischer Seite. Könnten Sie sich vorstellen, dass mit der italienischen Bischofskonferenz so ein Dokument auch denkbar wäre?
Garrone: Das weiß ich noch nicht. Aber im November ist eine gemeinsame Tagung der Konferenz der italienischen Kirche und des Bundes der evangelischen Kirche in Italien. Wir haben schon in der Vergangenheit solche Initiativen gehabt, aber diesmal wird die Reformation Thema sein, und so sehen wir mal, was aus dieser Tagung herauskommt. Es könnte auch etwas Ähnliches sein wie in Deutschland.
Weber: Aber es gibt bestimmt auch Bischöfe, die sagen, da gibt es nichts zu feiern und diese Reformation war der Anfang einer Katastrophe.
Garrone: Ja, ja, wie überall.
Weber: Aber die sind nicht die Mehrheit, auch nicht in Italien, sondern grundsätzlich gibt es eine ökumenisch-freundliche Grundstimmung?
Garrone: Das weiß ich nicht genau. Weil, während sich in Deutschland jeder Bischof, jeder Priester, jeder Katholik – und auf der anderen Seite jeder evangelische Christ – sich der Geschichte, der Ideen und der Anwesenheit der anderen Seite bewusst ist, ist in Italien das Bewusstsein der Existenz und der Geschichte der Protestanten eher eine Sache einiger Eliten. Im Alltag, soziologisch, spürt man davon nichts. Ich glaube, in Italien werden die meisten Bischöfe nicht gefragt und sie haben nicht das Bedürfnis, sich über die Reformation zu äußern. Denn das hat keine so große soziologische Relevanz wie zum Beispiel in Deutschland, wo ungefähr Fifty-Fifty der Bevölkerung traditionell katholisch und evangelisch waren, heute vielleicht 25 Prozent und 25 Prozent. Aber gut, das sind Millionen von Personen, das ist in Italien nicht der Fall.
Weber: Herzlichen Dank, Daniele Garrone, Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Waldenser in Rom!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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