Protest und Selbstverwirklichung

Das gekränkte Ich in der Pandemie

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Eine Illustration zeigt zwei vermeintliche Zwillingsbrüder von Angesicht zu Angesicht.
"Je größer der Anspruch auf unbestimmte Selbstbestimmung, desto radikaler wird der Widerstand gegen jene Kräfte, die das zunehmend kompromisslose ICH in die praktischen Schranken von Verordnungen weisen", meint Christian Schüle. © imago images / fStopImages / Malte Mueller
Überlegungen von Christian Schüle · 16.03.2021
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Sei besonders! Sei du selbst! Alles ist möglich! Unser Glaube an ein Recht auf unbedingte Selbstverwirklichung hat in der Pandemie einen Dämpfer bekommen. Für Christian Schüle speist sich der Protest gegen die Corona-Maßnahmen auch aus dieser Kränkung.
Seit geraumer Zeit hat es die Bundesrepublik mit Widerstand aus der Tiefe des eigenen Raums gegen sich selbst zu tun. Es geht nicht mehr gegen Atomkraft, Imperialismus oder Krieg im Nahen Osten, sondern gegen die eigenen Institutionen, Strukturen und Eliten.
Seit der Geburt des "Wutbürgers" im Ringen um den Bahnhof Stuttgart 21 vor gut zehn Jahren ist Widerstand in Deutschland getragen von einem quasi-religiösen Glauben an persönliche Selbstwirksamkeit. Der Einzelne kann etwas bewirken – je drastischer, desto größer die Garantie auf Aufmerksamkeit. Das "innere Selbst", seine Befindlichkeiten und Gefühlslagen sind zur Maßeinheit des unbedingten Rechts auf Selbstverwirklichung geworden. Die Erwartung an Selbstwertsteigerung im Zuge eines Zeitgeists, der das Außergewöhnliche und Egozentrische feiert und das Allgemeinverbindliche und Austarierende vergisst, ist enorm.

Vom "Alles ist möglich" zum "Nichts mehr ist möglich"

Zwischen Widerstand und Selbstbestimmung besteht also ein notwendiger Zusammenhang. Die Rebellion gegen eine mittlerweile tatsächlich ja erratische regierungsamtliche Corona-Politik ist das Resultat einer kulturellen Evolution der Selbstermächtigung, die wir uns seit 30 Jahren selbst predigen: Sei besonders! Sei einzigartig! Sei du selbst! Sei mündig! Sei autoritätskritisch! Sei deines Glückes eigener Schmied! Alles ist möglich!
Und nun, im pandemischen Verhängniszusammenhang, ist nichts mehr möglich. Nun hat der Individualist keine Chance, sein Leben individuell in die eigene Hand zu nehmen und selbst zu führen, weil er fremdgeführt wird.
Je größer der Anspruch auf unbestimmte Selbstbestimmung, desto radikaler wird und wächst der Widerstand gegen jene Kräfte, die das zunehmend kompromisslose ICH in die praktischen Schranken von Verordnungen weisen.

Selbstgebastelte Wahrheiten aus dem Netz

Dem vielfältigen Widerstand aber stehen mittlerweile abertausende Kanäle zur Verfügung. Jeder kann sich über Plattformen eigene Informationen besorgen und sich, algorithmisch eingesponnen, jeden Tag 24 Stunden lang eine eigene Wahrheit konzipieren.
Die klassischen Medien sind von der Disruption durch die technologische Revolution der vergangenen Jahre kalt erwischt worden: ihre Agenda-Setting-, Kontroll- und Schleusenwärter-Funktion ist passé.
Widerständler, Renegaten und Rebellen leben zwar in derselben Welt, teilen aber nicht die gleiche Realitätsbeschreibung. Die Unabhängigkeit ihres eigenen Erfahrungswissens hat für sie eine höhere Evidenz als die "Wahrheit" der amtlichen Zahlen und Werte, die nicht als wissenschaftlich, sondern als willkürlich aufgefasst werden.

Zur Selbstbestimmung gehört auch Verantwortung

Müsste eine Gesellschaft mit immer mehr Kleingruppenkonflikten, Parallelwelten und Ideologie-Communities, eine liberale offene Gesellschaft, die zu Recht viel Wert auf Pluralität und Selbstentfaltung legt, nicht dringend Ambivalenz-Bewältigung lernen? Müsste sie nicht aufs Neue lernen, Paradoxien auszuhalten und Widerspruch zu ertragen?
In einem Curriculum Kommunikation an Grund- und weiterführenden Schulen müsste von Kind auf gelehrt werden, dass Selbstbestimmung immer Verantwortung auch für das heißt, was außerhalb meiner selbst liegt. Jede und jeder Einzelne müsste in Vorleistung gehen und grundsätzlich davon ausgehen, dass bei aller strukturellen Komplexität der Dinge immer auch der Andere Recht haben könnte. Wahrhafte Toleranz beginnt dort, wo man Meinungen und Haltungen anerkennt und wertschätzt, gerade weil man sie nicht teilt.
Noch immer ist ja das Ideal des herrschaftsfreien Diskurses besser als die Ideologie der diskursfreien Denunziation.

Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert. Er hat einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin und lebt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman "Das Ende unserer Tage" und zuletzt die Essays "Heimat. Ein Phantomschmerz" sowie "In der Kampfzone".

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