Protagonisten auf Reisen

Die 1962 geborene Olga Tokarczuk ist eine der bekanntesten und renommiertesten lebenden Autoren Polens. Auch hierzulande fanden ihre mehrfach ausgezeichneten Bücher viele Leser - der Roman "Taghaus, Nachthaus" etwa, der vom Alltag eines niederschlesischen Dorfes erzählt und mit Hilfe von Legenden und Mythen hinter der polnischen Gegenwart viele Vergangenheiten sichtbar werden lässt, auch die der vertriebenen Deutschen.
Mit einem ausgeprägten Sinn für Metaphysik lässt Tokarczuk immer wieder die Alltagswelt hinter sich. Ihr neues Buch "Unrast", gleich zweimal, von Jury und Publikum, mit dem hoch angesehenen Nike-Preis ausgezeichnet und in Polen gefeiert, scheint auf den ersten Blick gar zur religiösen Erbauungsliteratur zu gehören. Eine Ich-Erzählerin lobt das ständige Unterwegssein und verkündet mehrmals: "Das Ziel meiner Pilgerreise ist immer ein anderer Pilger."

Die wahre katholische Lehre ist das nicht. Der Sinn der Pilgerreise ist die religiöse Läuterung, die Hinwendung zu Gott, auch die erhoffte Vergebung der Sünden. Von all dem ist in "Unrast" keine Rede. Das Buch beschreibt, obwohl Hotels und Flughäfen erwähnt werden, auch keine Reise.
Es besteht aus einer wahllos wirkenden Ansammlung von Notizen, Augenblicksbeobachtungen, kulturkritischen Reflexionen, halbwissenschaftlichen Referaten und knapp zehn längeren Erzählungen.

Ebenso beliebig erscheinen auch die Themen: Auf 450 Seiten ist von Anatomen des 17. Jahrhunderts und ihren Präparaten des menschlichen Körpers die Rede, von einer "Reisepsychologie" und Melvilles Roman "Moby Dick". Eine längere Erzählung schildert eine Sterbehilfe durch die ehemalige Geliebte, eine andere das dreitägige, spurlose Verschwinden von Ehefrau und Kind auf einer kleinen, übersichtlichen Urlaubsinsel. Die Ratlosigkeit, was all das miteinander verbinden mag, wird durch die historischen Karten des Heiligen Lands oder zur Reiseroute des Odysseus nicht unbedingt geringer. "Unrast" ist eine einzige Irrfahrt.

"Kräfte, die größer sind als wir selbst", heißt es in Tokarczuks vorletztem Buch, den Berlin-Erzählungen "Spiel auf vielen Trommeln", übernähmen die Regie. In "Unrast" kann von Kräften keine Rede sein – nur von einer, die einen Zettelkasten auskippte. Das Buch kreist ums Reisen, ansonsten fehlt ihm jeglicher Zusammenhang bis auf einen sehr plakativen: Pilgerreisen sind auch verstanden worden als symbolische Darstellung einer Lebensreise. Tatsächlich wächst die Ich-Erzählerin vom Kind zur Erwachsenen heran, und "Unrast" kreist gegen Ende um Tod und Einbalsamierung.

Manche Geschichten zeigen Olga Tokarczuks beachtliches erzählerisches Talent. Die meisten der nachlässig hingeworfenen Kapitel erwecken allerdings den verheerenden Eindruck bodenloser Naivität. Auf anderthalb Seiten wird unter der Überschrift "Der Netz-Staat" dem Handy, das im Ausland kein Netz finde und daher schweige, die reine Sphärenmusik gegenübergestellt, die der Reisende früherer Zeiten zu hören vermochte, wenn er am Ende der Welt über deren Rand hinaus schaute. "Für uns gibt es kein solches Geschenk am Ende einer Reise mehr. Außerhalb des Netzes herrscht Stille." Ach, hätte die begabte Olga Tokarczuk doch auch einfach Stille walten lassen, statt "Unrast" zu schreiben!

Rezensiert von Jörg Plath

Olga Tokarczuk: Unrast
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
Schöffling & Co/ Frankfurt am Main 2009
464 Seiten, 24,90 Euro